Nadine Rebel
Es beginnt unsichtbar. An einzelnen Punkten entstehen winzige, kaum zu sehende Löcher. Oberflächlich betrachtet bleibt alles beim Alten, innerlich wird die Substanz zerfressen. Wenn es offensichtlich wird, ist es häufig schon zu spät.
Dieses Gefühl beschleicht mich in den letzten Wochen, wenn ich mir den Austausch kritischer Menschen in diversen Kanälen ansehe. Während über den großen Zerfall von Werten wie Einigkeit und Recht und Freiheit diskutiert wird, fressen sich die zerstörerischen Tendenzen auch durch die scheinbar geeinten Gruppen der Kritiker.
Korrosion und Lochfraß entstehen, wenn an bestimmten Stellen etwas fehlt, und zeigen sich erst mit der Zeit. So ist das auch im sozialen Miteinander. Nicht immer schafft es eine Gruppe von der Phase des „Wir gegen den Rest der Welt“ hin zu respektvoller Reife im Umgang aller miteinander.
Da es am 01. April auch gerne mal etwas scherzhaft zugehen kann, betrachten wir uns heute den Verfall der Tradition des Weißwurstfrühstücks.
Lädt man in Bayern zu einem Weißwurstfrühstück ein, so ist klar, dass es Weißwürste, süßen Senf, Brezen und Bier (am Vormittag!) geben wird. „Wienerle“ oder „Debreziner“ gehören nicht zum Standardmenü. Wer sich darauf einlässt, der weiß das. Im Gegenteil: Wer einen Brunch als Weißwurstfrühstück betitelt oder umgekehrt, der verfehlt das Thema.
Kurze Frage am Rande: Dürfen Wienerle und Debreziner noch so bezeichnet werden? Ich bin mir unsicher.
So ähnlich war das bisher in den kritischen Gruppen. Alles drehte sich um Weißwürste und Brezen. Natürlich wurden in einer Gruppe ausschließlich Brezen von diesem Bäcker und Weißwürste von jenem Hersteller und auch nur eine Sorte süßer Senf favorisiert, aber es ging immer um ein Weißwurstfrühstück.
Man suchte sich dann die Gruppe aus, bei der man sich auch mit der Bäcker- und Metzgerauswahl vereinbaren konnte.
Die Unterschiede waren so geringfügig, dass man darüber hinwegsehen konnte. Man selbst war man unter Umständen nach einem Paar Weißwürste gesättigt, eine andere Person benötigte dafür schon 5 Paar. Bier zum Frühstück? Auch nicht jederpersons Sache, man wählt alkoholfrei.
Die Geschmäcker waren nicht zu verschieden, was durch die Menüauswahl bereits vorgegeben war. Anders sieht es dann aus, wenn man einen Brunch macht. Chinesische Suppe neben Bohnen in Tomatensauce, Brot, Brötchen, Brezen, Vollkornbrot, Müsli, Eier mit Speck, Kaffee, Tee, Cola, Bier, Sekt, Orangensaft. Da kann es zu Diskussionen über Geschmäcker kommen. Nun können nämlich auch fitnessverliebte Veganer auf eingefleischte Allesverspeiser treffen. Hier ist reichlich Zündstoff vorhanden.
Grünkohlsmoothie neben Rührei mit Speck? Eher unwahrscheinlich.
Auch hier beginnt der Lochfraß schleichend. Prinzipiell ist nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Person glutenfreien Brezen selbst mitbringt. Vollkommen in Ordnung, wenn man zum Frühstück lieber einen Kaffee statt eines Biers trinken möchte.
Das nächste Mal bringt jemand Vollkornbrezen mit und wieder eine Person ist der Meinung, ein bisschen Grünfutter schadet nicht. Warum eigentlich kein Sekt statt Bier? Und könnte man nicht mal anregen, Cornflakes hinzustellen?
Und so entwickelt sich aus dem Weißwurstfrühstück langsam und schleichend der oben genannte Brunch. Mit der Veränderung der angebotenen Speisen gehen die Geschmäcker mehr und mehr auseinander. Das muss thematisiert werden. Nun kann es schon zu spät sein. Das Weißwurstfrühstück droht zu korrodieren.
Etwas Bedrohliches wahrzunehmen, muss noch lange nicht heißen, dass die Bedrohung Schaden anrichtet. Solange der Biertrinker (m, w, d) kein Problem damit hat, dem Kaffeetrinker zuzuprosten, ist alles in Ordnung.
Wenn aus der Vielfalt der Themen, der Speisen und Geschmäcker allerdings Grundsatzfragen gemacht werden, dann zeigt sich, ob die Frühstücksgruppe auf einem Fundament von Achtung, Respekt und Toleranz steht, welches viele Frühstücksgruppen für sich postulieren.
Der Veganer (m, w, d) der sich abfällig darüber äußerst, wie man so einen Dreck (Weißwürste) überhaupt fressen könne und der Biertrinker, der Grüntee für absoluten Blödsinn hält, was viel über den Konsumenten verraten würde. Derartiges Verhalten trägt nicht dazu bei, dass gegenseitiger Respekt lebendig bleibt.
Auf einmal muss man nicht mehr nur eine Meinung zum Senf, den Weißwürsten und dem Bier haben, sondern sollte sich auch mit der Herstellung von Grüntee auskennen und wissen, ob der Grünkohl biologisch angebaut wurde. Man versucht, allen Menschen am Tisch zuzuhören, man versucht sich mit der Schadstoffbelastung der Salatbar auseinanderzusetzen, man traut sich fast nicht zuzugeben, dass man sich noch nie Gedanken darüber gemacht hat, ob die Orangen für den Saft glücklich reifen durften.
Das geht so nicht, man schämt sich, dass man bisher so einfältig war. Das nächste Mal muss man besser informiert zum Frühstück erscheinen.
Und während man sich dann als Gastgeber um die Auswahl der richtigen Säfte kümmert, den Kaffee nur noch Fairtrade kauft, glutenfreie Brezen bestellt und auf diversen Kochseiten das beste Rezept für Grünkohlsmoothie sucht, hat man doch glatt vergessen, normale Brezen und Weißwürste zu kaufen.
War die Vorbereitung des Frühstücks bisher etwas, bei dem man sich auf sicherem Terrain wähnte, jagt nun eine Unsicherheit die nächste.
Ganz schlimm wird es, wenn man dann von wissenden Personen geringschätzig angesehen wird, weil sie gar nicht glauben können, dass man keine Meinung zu Grünkohl hätte. Das gehe in der heutigen Zeit aber nicht. Da müsse man sich schon ein bisschen mehr anstrengen.
Hört man nun den Grünkohlexperten nicht zu, sondern äußerst sich vielleicht sogar dahingehend, dass man sich mit Grünkohl nicht auskennt und auch gar nicht auskennen will, steht das gemeinsame Frühstück kurz vor der Explosion.
Was tun? Um die eigenen Ressourcen zu schonen, ist es wichtig, die Hülle nicht schutzlos der Korrosion und dem Lochfraß auszusetzen. Vielleicht lieber bei sich bleiben? Vielleicht die Notbremse ziehen? Ist es so falsch, sich mit einer Thematik auseinanderzusetzen und gleichzeitig nicht umfassend über die Themen 2 bis 10 informiert zu sein?
Manchmal scheint es sogar so, dass neue Themen dann ins Feld geführt werden, wenn sich alle Beteiligten mit der Zeit gleich gut auszukennen scheinen. Herrschaftswissen kann nicht mehr angewandt werden.
Dass das vorher zögerlich, aber gönnerhaft geteilte Wissen Herrschaftswissen war, realisiert man dann, wenn man selbst gut informiert ist und nun auch Kritik und Fragen nach innen bringt, statt sie nur gegen das „Außen“ zu richten.
Dann muss eine neue Thematik die Gruppe bereichern. Per se kein schlechter Gedanke. Wenn man sich gegenseitig mit dem Schwarmwissen über Brezen und Weißwürste zu Experten entwickelt hat, dann könnte das auch in Bezug auf Rührei mit Speck funktionieren. Könnte.
Wenn sich allerdings die Frühstücksgruppe bereits mehrere Jahre intensiv mit einer Thematik auseinandergesetzt hat, dann fehlt unter Umständen die Energie für die Themen 2 bis x.
Ungeduld nimmt zu, pampige Antworten folgen.
Die gemeinsame Denkweise in Bezug auf Weißwürste und Brezen lässt sich nicht auf Rührei mit Speck und Grünkohlsmoothie übertragen. Die Befindlichkeiten nehmen zu, die Nerven sind gespannt wie Drahtseile, und der Geduldsfaden reißt.
Und so setzt die Korrosion der Gemeinschaftlichkeit ein. Das große Ziel gemeinsam in ruhiger und besonnener Weise Meinungen auszutauschen und diese auch dann stehenlassen zu können, wenn sie nicht der eigenen Meinung entsprechen, ist nicht mehr wichtig.
Was man bei „anderen“ ablehnte und wovor man sich schützen wollte, wird verweht. Korrosion, Erosion, Lochfraß und Gehässigkeit.
Und wenn sich dieser Lochfraß fortsetzt, dann kann eine ganze Gruppe den Verhaltensweisen und Meinungen verfallen, die sie selbst ablehnte.
Konkret: Wie haben sich einige (auch ich) gewehrt, in die räääächte Ecke gestellt zu werden, nur weil sie Kritik gegen Maßnahmen äußerten. Friedlich, offen, aufgeschlossen – das wären die Attribute, die viel eher beschreiben würde, wie diese Gruppe zusammengesetzt wäre.
Doch kaum kommt ein nicht minder wichtiges Thema auf, mit dem man sich auseinandersetzen muss, werden neben immer neuen schrecklichen Zukunftsprognosen, die nur die Herrschaftswissenden haben, und die man nicht kapiert oder nicht kapieren soll oder nicht kapieren will, Stimmen laut, die behaupten, die Flüchtlinge kämen nur, um als Billiglöhner den impffreien Personen die Arbeit (beispielsweise in der Pflege) wegzunehmen.
Das ist leider eine solch traurige sich selbst erfüllende Prophezeiung, dass ich nicht mehr Mitglied dieser Gruppe sein möchte. Dann esse ich meine Weißwurst alleine.