Nadine Rebel
Die schlimmste Aussage, die ein Mensch gegenüber einem anderen Menschen, der sich in einer besonders schweren Zeit befinden würde, treffen könne, sei: „Melde dich, wenn Du was brauchst!“ – so eine Gesprächspartnerin, als wir anlässlich einer Geburtstagsfeier in Gespräch kamen. Es ging um Phasen, die man allein nicht durchstehen kann, in denen man Hilfe benötigt. Dramatisch wäre dieser Satz aus mehrerlei Gründen. Eine Betrachtung mit mindestens 2 Ansichtsseiten.
Zu viel für Einen
Die Gründe, warum man in Phasen der Hilfsbedürftigkeit kommen kann, sind ganz unterschiedlich: Eine schwere Erkrankung, eine neue Aufgabe, einen Pflegefall, den man betreuen muss, oder kurzfristige Herausforderungen wie Umzüge, Fahrdienste oder Hilfe beim Schleppen oder einem Schrankaufbau.
Hier ging es um die Phase, in der die Gesprächspartnerin eine schwere Krankheit durchleben musste und die Parallelen zu der Herausforderung von heute auf morgen einen Pflegefall in der Familie zu haben, für den man 24/7 da sein muss.
Beides stellt von heute auf morgen das eigene, gewohnte Leben auf den Kopf. Es gibt vieles, von dem man sich verabschieden muss, manche Abschiede sind einem dabei bewusst, andere werden einem im Verlauf der Zeit schmerzlich vor Augen geführt. In beiden Fällen ist es aber nun einmal so und es lässt sich nicht ändern.
Das Umfeld
Freunde und Bekannte bekommen es mit, hören auch gerne einmal zu und beenden das Gespräch dann meist mit dem oben genannten Satz, so die These der Gesprächspartnerin.
Der Satz wäre deshalb so tragisch, weil es nur ein Ausdruck dafür wäre, dass die Menschen mit der Situation der Person, der sie gerade großspurig Hilfe angeboten hätten, nicht zurechtkommen würden und man niemals, unter gar keinen Umständen auf diesen Satz zurückgreifen sollte oder darf.
Aber
Ja, in 9 von 10 Fällen wird der Satz im Rahmen einer nichtverhandelbaren gesellschaftlichen Konvention dahingesagt. Das stimmt leider. Doch es gibt auch die Personen, die es ernst meinen. Tatsächlich zähle ich mich selbst dazu, weshalb ich ein wenig innerlich pikiert auf diese Aussage reagierte. Warum die Aussage so schlimm wäre und was man dann als Mensch, der es wirklich ernst meinen würde, stattdessen sagen solle, fragte ich.
Du konfrontierst mich mit meiner Unzulänglichkeit
Meine Gesprächspartnerin erwähnte einen Insta-Post, der die Situation ihrer Meinung nach perfekt beschreiben würde. Durch die Aussage, man solle sich melden, wenn man Hilfe brauchen würde, fände eine Verantwortungsverschiebung statt.
Statt, dass sich der potenzielle Helfer/ die potenzielle Helferin aktiv Gedanken machen würde, welche Hilfe er/sie konkret anbieten könnte, gäbe sie nach dem lapidar ausgesprochenen Satz, den Ball zurück.
So würde sie die Person, die sich sowieso bereits in einer bescheidenen Situation befinden würde, gezwungen, sich selbst (noch einmal) ihre eigene Unzulänglichkeit vor Augen zu führen, um dann im nächsten Schritt, die Fehlerhaftigkeit auch noch einer anderen Person eingestehen zu müssen und als Kirsche auf der Torte des Unwohlseins, diesen Schmachgang mit der erneuten Bitte um Hilfe zu beenden.
Und damit nicht genug, meist würde die Hilfe danach sowieso abgelehnt.
Helferdiskriminierung
Diese Umschreibung fand ich drastisch und auch ein wenig gemein denen gegenüber, die wirklich helfen wollen. Ich erklärte, dass ich, wenn ich diesen Satz ausspräche, ihn auch so meinen würde und es mir durchaus bewusst sei, dass das bedeuten könne, dass ich nachts um 3:00 Uhr jemanden abholen muss, oder beim Umzug helfe, oder Kleidung ausbessere, oder einkaufen gehe, oder einen Brief verfasse oder, oder, oder. Ich gehe davon aus, dass die Person, die mir ihr Leid klagt, mich ein wenig kennt und weiß, dass sie auf mich zählen kann und was ich zu leisten bereit bin. Und wenn ich es nicht selbst leisten kann, dann kann ich ja gemeinsam mit der Person nach einem geeigneten Ansprechpartner suchen.
Ihrer Meinung nach müsse eine Person, die wirklich helfen wollen würde, eine Art Angebotsportfolio erstellen, so dass die Erniedrigungsphase der Bittenden so kurz wie möglich gehalten werden könnte. Besser wäre es noch, wenn der Helfer/die Helferin ganz ungefragt und ohne Absprache wie ein Heinzelmännchen das Richtige tun würde.
Sie da, in dem blauen Pulli...
Zum Teil meine ich nachvollziehen zu können, was sie meinte. Kann mir mal einer helfen? Dann kommt niemand. Man solle konkret sagen, was man braucht und konkret eine Person ansprechen, beispielsweise, wenn man in der Straßenbahn beim Heraustragen des Kinderwagens eine helfende Hand bräuchte.
In der Straßenbahn und bei der sehr überschaubaren Aufgabe des 10-sekündigen Handreichens mag das funktionieren. Leider kann ich auch die Verbitterung, die aus der Erfahrung, dass der Hilfesatz meist den Sauerstoff nicht wert ist, den er zum Aussprechen verbraucht, nachvollziehen.
Und die Bandbreite der Ignoranz ist so groß und so vielfältig und so bunt, dass man dabei nur staunen kann. Selbst wenn man konkret benennt, an welchem Tag für welche Aufgaben und für welche Zeitdauer man Hilfe benötigt, bringen es Personen fertig, ihre eigene Mutter oder Schwester, einfach weiterhin denen zu überlassen, die es ja sowieso 24/7 machen, weil sie leider Besuch haben, auf einen Wochenendtrip fahren, im Urlaub sind.
Ein Leid kannst Du dir sparen
Und hier meinte meine Gesprächspartnerin, dass es das Beste wäre, dieser Tatsache ins Auge zu schauen, nur, um sich ein Leid zu ersparen. Es würde niemand helfen, die Menschen könnten mit anderen Menschen, die krank seien, die Pflege benötigen würden, nicht zurechtkommen, die Gesellschaft hätte keine Verwendung für diese Personen, die als lebendig gewordene Mahnmale von Krankheit und Zerfall zeugen würden und das würde sich auch nie ändern.
Und deswegen solle man aufhören, nach Hilfe zu fragen, da man sie sowieso nicht bekommen würde. Und die Enttäuschung darüber, dass man mit einem Satz abgespeist wurde, dessen Wahrheitsgehalt einem Wahlversprechen gleicht, würde die Belastung nur vergrößern und einen psychisch nur umso mehr belasten.
Nachdenklich
Und weil mich die Gedanken nicht loslassen, habe ich sie aufgeschrieben. Ich kann die Sichtweise verstehen, leider auch sehr gut nachvollziehen und mit mittlerweile unzähligen Beispielen selbst belegen. Gleichermaßen will ich nicht glauben, dass es nur solche Personen gibt. Ich meine es ernst, wenn ich es anbiete und ich glaube, kein Einzelexemplar zu sein, zumindest hoffe ich es.
Aber auch Glaube und Hoffnung fallen häufig der Enttäuschung zum Opfer. Dann sieht man zwar klarer, aber ist verbitterte Desillusion wirklich das, was den Nettogehalt sozialer Beziehungen ausmachen sollte?