Nadine Rebel
"Als Anstand wird in der Soziologie ein als selbstverständlich empfundener Maßstab für ethisch-moralischen Anspruch und Erwartung an gutes oder richtiges Verhalten bezeichnet. Der Anstand bestimmt die Umgangsformen und die Lebensart." (Hillmann, Wörterbuch der Soziologie)
Nicht alles, was man tun kann, sollte man auch tun. Manches „Erlaubte“ sollte das Gesetz des Anstands verbieten. Allerdings scheint Anstand heute nicht mehr in Mode zu sein.
Über die Entgleisungen, die Hetze, die Diffamierungen habe ich mich schon mehrfach ausgelassen. Auch diese hätten ein moralischer Kompass und ein gewisses Maß an Anstand verbieten müssen. Die Entwicklungen, die das eigene Wohl, den Profit, die Gier, die Überhöhung der eigenen Wünsche über alles andere stellen, sind allgegenwärtig.
JGA
Beim Frühstückskaffee hörte ich die Vorstellung des gleichnamigen Films. Da ich schon mehr als einmal das Gefühl hatte, dass manche Gruppen von Frauen bei der Durchführung eines JGA (Junggesellinnenabschieds) den Film „Hangover“ nachzuspielen versuchen, weil sie einfach mal „die Sau rauslassen“ möchten, war ich über den Kinofilm, der nun tatsächlich die weibliche Form der Junggesellinnenabschiede in den Mittelpunkt stellt, nicht begeistert.
Um es vorwegzunehmen: Viele Gruppen, die als Programmpunkt den Tanz an der Stange (Poledance) oder im Reifen (Aerial Hoop) oder mit dem Stuhl (Chairdance) für den JGA aufnehmen, sind mehr als in Ordnung. Aber leider gibt es auch andere. Sturzbetrunken wird nicht verstanden, warum sie nun nicht akrobatisch tanzen können. Sie sind laut, halten sich an keinerlei Regeln und am Ende darf ich so Einiges aus den Toiletten entfernen und hoffen, dass der Geruch von Erbrochenem sich schnell wieder verflüchtigt.
Wage ich es, in derartigen Fällen, meinem Unmut Luft zu machen, bin ich eine schlechte Dienstleisterin und werde auch mal als „A. . . loch“ betitelt. Die negative Google-Bewertung folgt meist auf dem Fuß.
Das Argument, welches angeführt wird: Wir haben dafür bezahlt, also dürfen wir uns auch so benehmen. Du bist Dienstleisterin, also hast Du es hinzunehmen und dafür zu sorgen, dass wir Spaß haben.
Natürlich kann man sich in oben beschriebener Weise benehmen. Es ist nicht verboten.
Das reicht als Legitimation. Anstand, Respekt, Wertschätzung? Nicht gegenüber einem Dienstleister.
Darüber mag man denken, was man will.
Den eigenen Willen durchzusetzen, den eigenen Spaß und den eigenen Luxus als einziges Ziel, welches es zu verfolgen gilt, vor Augen zu haben, scheint das erklärte Ziel eines spaßerfüllten Lebens zu sein. Wer auch nur den Anschein erweckt, Steine auf dem Weg zur Zielerreichung zu platzieren, muss gedemütigt, bekämpft, beleidigt, diffamiert und im schlimmsten Fall eliminiert werden.
Woher kommt ein solches Verhalten? Ich wage einen Vergleich zur Politik.
Vorbild Politik
Man kann es den Menschen nicht einmal verübeln, wenn man sieht, wie es in vielen anderen Bereichen läuft.
Ist es anständig, das eigene Einkommen immer weiter zu erhöhen, während man anderen immer mehr wegnimmt?
Ist es anständig, Menschen durch Angst gefügig machen zu wollen?
Ist es anständig, Dekadenz auszuleben, während andere nicht mehr wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt zahlen sollen?
Gewinne auf Kosten anderer
Wie kann es sein, dass Energiekonzerne Milliardengewinne einfahren, während vielen Familien angeraten wird zu frieren (https://www.n-tv.de/wirtschaft/Energiekonzerne-fahren-Milliardengewinne-ein-article23493767.html)? Ist es anständig sehenden Auges existenzbedrohende Zustände zu generieren, während die Taschen anderer immer voller werden?
Während auf der einen Seite Geld gescheffelt wird, weiß so manche Person nicht mehr, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten soll.
Ist das fair? Ist das anständig?
Es mag nicht gegen das geltende Gesetz verstoßen, aber wo bleibt der eigene moralische Kompass all jener, die dies ermöglichen? Das eigene Gewissen sollte die Bremse dieser Entwicklung sein, die Gier ist der Motor.
Der Blick zurück
Wenn das Volk kein Brot habe, so solle es doch Kuchen essen, meinte angeblich Marie-Antoinette. Zwar wurde dieser Satz der damals 34-jährigen Königin von Frankreich in den Mund gelegt, doch steht er als Sinnbild für die Realitätsferne der herrschenden Klasse. Leider besticht dieser Satz als Beschreibung der aktuellen Situation. Junge Menschen, bei denen man den Verdacht hegen könnte, sie wären mit der Vorstellung aufgewachsen, dass man seinen Lebensunterhalt nicht erarbeiten muss, entscheiden über die Verzichtsmöglichkeiten anderer, während sie selbst für Aussagen und Verhalten, welches einem Menschen mit gesundem Verstand nur Kopfschütteln entlocken kann, fürstlich bezahlt werden.
Marie Antoinette feierte luxuriöse Feste in Versailles, während das Volk hungerte. Dieses Verhalten führte letztlich zum Sturm auf die Bastille.
Wut setzt Energien frei. Wut ist allerdings selten ein guter Motor. Wut wirkt zerstörerisch und lässt Situationen eskalieren. Konflikte sollten allerdings bereinigt werden, bevor die Welten wütend aufeinanderprallen.
Die adligen Eliten, die keine Ahnung vom Leben, den Sorgen und Nöten der einfachen Gesellschaft haben. Was ist heute anders? Marie Antoinette brüskierte das Volk und die Hofgesellschaft gleichermaßen, weil sie lieber feierte, statt ihren Pflichten nachzukommen.
Wäre es ihre Pflicht gewesen, sich um das Volk zu kümmern? Wäre es ihre Pflicht gewesen, sich mit den Sorgen und Nöten ihrer Untertanen auseinanderzusetzen? Einige sahen dies als Pflichten von Königen und Königinnen an. Aber da wir ja in einer Demokratie und nicht in einer Monarchie leben, sind natürlich die Pflichten der Politik nicht mit den Pflichten und Aufgaben von Königen und Königinnen zu vergleichen.
Manches Verhalten allerdings schon.
1785 gab es zwar keinen Cum-Ex-, allerdings einen Halsbands-Skandal. Angeblich wäre ein sehr kostbares Collier unter betrügerischer Verwendung des Namens des Königs verschwunden. Die Unschuld der Königin konnte erwiesen werden, ihr Ruf war dahin – oder der Rest dessen, was von einem guten Ruf übriggeblieben war. Das Vertrauen in die Königin war ausgelöscht, jeder Versuch, auf dem bereits verbrannten Boden neues Vertrauen wachsen zu lassen, scheiterte.
Das verspätete Eingreifen, die Unerfahrenheit und Naivität Maries verschlimmerten die Lage.
Man forderte, dass die Allmacht der Königin beschränkt werden solle. Eine Verfassung sollte dies möglich machen.
Die Versammlungen, die diese Forderungen aussprachen, waren Marie ein Dorn im Auge und so entschied sie sich für eine militärische Lösung: Die königstreuen Truppen sollten die Ständeversammlungen auflösen.
Und heute?
Heute sprechen wir von einem anstehenden möglichen Wut-Winter. Heute werden in der Politik und teilweise im Privatleben, Moral und Anstand nicht einmal mehr buchstabiert.
Wie weit soll das noch gehen?
Wo ist das Gewissen, wo die Moral, wo der Anstand, wo die Wertschätzung?
Inflationär gebraucht werden diese Worte, doch ihr Wert geht gegen Null.
So ist es auch mit der Nachhaltigkeit vieler Versprechen, die gegeben wurden. Wie sollte es auch anders sein, denn ein Ehrenwort einzuhalten, setzt einen gelebten Ehrbegriff voraus.