Nadine Rebel
Der Student Viktor Hase kam 1854 vor Gericht. Statt seine Kommilitonen zu verpfeifen, antwortete er nur: „Mein Name ist Hase, ich verneine die Generalfragen. Ich weiß von nichts.“
Grundsätzlich ein ehrenwerter Zug, wenn man sich der Denunziation verweigert. Immerhin war er als Nicht-Denunziant nicht der größte Lump im Land. Heute wird der Ausspruch verwendet, wenn man sich an nichts erinnern will. „Scholzen“ ist noch nicht in aller Munde.
Die Krönung des Nicht-Wissen-Wollens ist allerdings die Verleugnung. Sie dient dem Schutz der eigenen Psyche. Angesichts des Umstands, dass diese mehr und mehr zunimmt, muss man sich fragen, wovor sich die Leugner schützen wollen.
Schutzmechanismen
Man schützt sich, um nicht verletzt zu werden, um keinen Schaden zu erleiden. Das gelingt nicht immer perfekt, manchmal werden einem auch Verhaltensmaßnahmen und Methoden nahegelegt, die leider keinen Schutz bieten. Aber allein der Glaube daran, kann helfen. Ein Umstand, den man Homöopathie-Anhängern häufig zum Vorwurf macht. Man legt den Sicherheitsgurt an, man trägt einen Helm, man schließt die Haustür ab, man meidet Menschen, die einem die Energie rauben, man schließt Versicherungen ab, man glaubt Personen, weil Vertrauen mehr Ruhe verschafft als permanentes Misstrauen. Sehr gut nachvollziehbar, verantwortungsvoll und umsichtig.
Mitunter stellt man dann dennoch fest, dass alle Schutzmaßnahmen nicht geholfen haben. Statt sich nun um 180° zu drehen (besser als 360°), beginnt der Mensch zu relativieren. Hätte man den Sicherheitsgurt nicht angelegt, den Helm nicht getragen, den Umgang mit bestimmten Personen nicht gemieden, die Tür offenstehen lassen etc., wäre es bestimmt viel schlimmer gekommen.
Kann sein, kann auch nicht sein, aber die Psyche ist beruhigt.
Manchmal geht der egoistische Schutz der eigenen Psyche allerdings so weit, dass man die Augen vor der Wahrheit verschließt, sich die Finger in die Ohren steckt und laut „la la la“ singt, während man mit der Realität konfrontiert wird.
Das ist nicht nur kindisch, sondern krank, leider kann man sich dagegen nicht immunisieren.
Nicht aus der Bahn geworfen werden
Abwehrmechanismen der Psyche sind wichtig, um nicht plötzlich das Gleichgewicht zu verlieren, zu straucheln, zu fallen und sich (noch mehr) zu verletzen. Bei Abwehrmechanismen handelt es sich um psychische Prozesse, die dabei helfen, mit unerwünschten Empfindungen umzugehen.
Positiv daran ist, dass der Mensch, der Abwehrmechanismen benutzt demnach auch Empfindungen hat. Einigen Empfindungen versuchen wir durch Rationalisierung den Raum zu nehmen, so dass sie uns nicht so tief verletzen können (Die alte Tasse ist zu Bruch gegangen. Nicht so schlimm, sie hat sowieso nicht zum Rest des Services gepasst). Sie werden verletzt und lassen ihren Frust an einer anderen Person aus. Nicht schön, aber im Rahmen der Verschiebung nachvollziehbar und relativ normal. Ab und zu möchte man vielleicht einfach schreien und alles kurz- und kleinschlagen. Statt diesem Impuls nachzugeben, bietet man stattdessen Schrei-Yoga-Kurse an oder beginnt, Holz zu hacken. Hier kanalisiert man die Energie in einer Form, die Nützliches schaffen kann. Die vernünftigste Art, Abwehrmechanismen zu benutzen.
Abwehrmechanismen benötigt unsere Psyche dann, wenn sie spürt, dass sie andernfalls zu sehr emotional belastet würde. Der Prozess läuft dabei nicht bewusst ab. Man öffnet nicht seinen Kopfschrank und sucht sich den passenden Abwehrmechanismus aus. Die Psyche schützt das Bewusstsein, spielt Mama/Papa, weiß, dass das Bewusstsein mit der Wahrheit nicht umgehen könnte, bietet Alternativen.
Und so wie ein heranwachsender Mensch mit den Jahren der Realität immer mehr ins Auge blicken sollte, um ihr die Stirn zu bieten, so gibt es kindische, unreife und reife Abwehrmechanismen.
Allen Abwehrmechanismen ist dabei gemein, dass sie nicht dazu dienen, das Ursprungsproblem zu lösen, vielleicht, weil es gar nicht gelöst werden kann.
Doch ein Blick auf das Ursprungsproblem wäre, gerade wenn es ein gesellschaftliches ist, doch ganz „nett“.
Unreife Abwehrmechanismen deuten auf instabile und wenig entwickelte Persönlichkeiten hin.
Reife Abwehrmechanismen
Etwas rational zu betrachten, scheint ein Zeichen von Reife und Verstand zu sein. Die Logik wird herangezogen, die Gefühle haben nichts zu sagen. Klingt vernünftig. Wenn die Rationalisierung dazu dient, Schuldgefühle zu unterdrücken oder sich nicht mit der Ursprungssituation auseinandersetzen zu müssen, dann scheint dies nur ein reifer Abwehrmechanismus zu sein. Ein falscher Sachverhalt wird nicht besser, nur weil er rational betrachtet wird.
Ich möchte dies an einem persönlichen Beispiel verdeutlichen: Die Tatsache, dass ich gesunde Menschen von meinen Angeboten im Sportstudio ausschließen musste (2G) wird nicht besser, wenn ich damit argumentiere, dass diese sowieso nicht mehr allzu lange Kunde gewesen wären, weil sie nicht so sportlich waren.
Es war falsch, da hilft weder ein reifer noch ein unreifer Abwehrmechanismus.
Die Rationalisierung dient der Vermeidung der Verantwortungsübernahme.
Wenn die Gründe im Außen zu liegen scheinen, ich aber selbst damit doch ein „Thema“ oder Problem habe, dann muss ich mich fragen, wie ich hier Verantwortung übernehmen kann.
Diese Frage habe ich mir gestellt und semioptimale Lösungen gefunden, mit denen ich heute immer noch nicht glücklich bin. Immerhin habe ich meiner Psyche Raum gegeben, denn es war falsch, es war diskreditierend, es war unmenschlich, es war diffamierend, es war eben einfach nicht richtig.
Wohlklingende Gründe im Außen gab es genug, die dies alles vernünftig erschienen ließen.
Anzuerkennen, was vorhanden ist, die Sachlage im Innen und Außen genau zu betrachten und sich dann zu überlegen, was man damit Gutes anfangen kann, ist ebenfalls ein Abwehrmechanismus, er wird Sublimierung genannt.
Bei dieser Art der Abwehr setzt man sich mit den Impulsen, den Trieben, den negativen Gefühlen, der Wut, dem Zorn, der Angst, dem Neid und allen anderen aufzulistenden Emotionen in einer Art auseinander, die zum einen diesen Gefühlen Raum gibt und zum anderen anerkennt, dass sie - die Gefühle - nicht hemmungslos ausgelebt werden können, dass man stattdessen eine andere Art finden muss, konstruktiv mit sich, den äußeren Umständen und den Gefühlen umzugehen.
Wer Holz hackt, statt ständig die Wohnung kurz und klein zu schlagen, wer mit dem Boxsport beginnt, statt jeder Person, die einem dumm kommt mit der Faust zu begegnen, wer sich etwas sucht, was die volle Konzentration beansprucht, um den Kopf zur Abwechslung auch mal mit etwas anderem zu beschäftigen, der geht mit sich im Ganzen reif um.
Bei der Sublimierung kommt es darauf an, Gefühle nicht gänzlich zu unterdrücken. Nur dann funktioniert sich ganzheitlich und geht in die Tiefe. Emotionen, Triebe, Intentionen bergen das Potential großer körperlicher Energie. Negieren wir diese komplett, nehmen wir uns einen wichtigen Teil unserer Existenz.
Selbst reife Abwehrmechanismen haben Schattenseiten, doch ihr Lichtpotential ist größer.
Ihnen gegenüber stehen Mechanismen, die gar nichts beleuchten wollen und im Dunkeln den Teppich über die Probleme legen, die sie selbst blind darunter gekehrt haben.
Unreife Abwehrmechanismen
Die eigenen Probleme auf andere abwälzen, die Grundursachen nicht erkennen, den Beinbruch mit der Kopfschmerztablette heilen wollen, oder Dinge einfach nicht wahrhaben zu wollen - all dies sind zwar normale Abwehrmechanismen, leider aber keine konstruktiven.
Die Verwendung dieser wird die Situation weder beleuchten, noch verbessern, noch einer Wiederholung Einhalt gebieten können.
Nicht ich habe ein Problem, sondern die anderen. Man kennt den Witz mit dem Geisterfahrer. Hier wird der Abwehrmechanismus der Projektion so überspitzt dargestellt, dass man hoffentlich lachen muss. Gleichermaßen wird deutlich, wie Projektion funktioniert. Projektion wird sogar in der Bibel beschrieben. Man kennt die Begebenheit, in welcher sich eine Person über den Splitter im Auge des Gegenübers mokiert, während die Person das Brett vor dem eigenen Kopf nicht sieht. Man rempelt jemand an und beschwert sich postwendend, der andere möge doch bitte besser aufpassen und die Augen aufmachen.
Alles Projektion. Schuld sind immer die anderen und man selbst hat überhaupt kein Problem und macht auch keine Fehler.
Verschiebung als Abwehrmechanismus funktioniert nach dem Radfahrerprinzip: Nach oben buckeln, nach unten treten. Gegenüber Obrigkeiten kann man sich nicht behaupten, will sich nicht behaupten, will sich mit diesen nicht anlegen. Den Frust, den man dabei unter Umständen erlebt, gibt man an (gefühlt) rangniedrigere Personen weiter, da diese einem ja nichts anhaben können.
Die eigene Psyche ist unantastbar. Ihre Integrität muss um jeden Preis geschützt werden. Verhaltensweisen, Emotionen oder gar Triebe, die dem Ich-Ideal nicht entsprechen, gibt es nicht. Basta. Sollte man im tiefsten Inneren doch einmal von weit her das leise Wimmern der noch lebenden Emotionen oder Triebe hören, könnte das oben zitierte „Lalala“ helfen. Da die Stimmen aber von Innen kommen, verdrängt man einfach, womit man nicht umgehen kann.
Wie ein übervoller Mülleimer, vor dessen Entleerung man sich ekelt. Nur weil man nicht mehr hinsieht, ist der Dreck aber dennoch da. Und man weiß auch, dass der Mülleimer noch voll ist, denn die Nase weist einen immer wieder darauf hin.
Funktioniert also nur bedingt.
Verleugnung ist allerdings der haarsträubendste der Abwehrmechanismen. Gibt es nicht, gab es nie und wer Beweise vorlegen kann, dass man sich irrt, der hat diese gefälscht. Problem gelöst.
Verleugnung setzt der Verdrängung die Krone auf. Bei der Verdrängung lehnt man „nur“ etwas (Gefühle, Triebe etc.) ab, was in einem selbst vorhanden ist. Bei der Verleugnung erkennt man die unerwünschten Teile der Realität im Außen einfach nicht an. Dies allerdings mit Nachdruck und Vehemenz.
Man mag sich denken, dass es diese Art von Abwehrmechanismus bei Menschen, die im Alltag ihren Mann/ ihre Frau oder sonst irgendein Geschlecht stehen müssen, nicht geben kann. Ein Mensch, der als Mitglied einer Gesellschaft über ein Grundmaß an Aufmerksamkeit verfügt, des Lesens mächtig ist und keine diagnostizierte galoppierende Demenz hat, kann doch nicht einfach der festen Überzeugung sein, dass es Dinge, die man belegen kann und die er/sie/es (eigentlich) selbst miterlebt hat, gar nicht gegeben hat.
Das gibt es nur im Fernsehen
Verleugnung ist der unreifste Abwehrmechanismus. Wer die Verleugnung für sich in Anspruch nimmt, hat ein Problem und kein kleines. Menschen, die Tatsachen verleugnen, kommen ohne therapeutische Hilfe nicht mehr aus ihrer eigenen buntgestrichenen Realität heraus. Wozu auch, draußen ist alles so trist und grau.
Ich dachte nicht, dass ich es jemals mit Verleugnung im großen Stil zu tun bekommen würde, und wurde eines Besseren belehrt. Auch wenn es viele nicht (mehr) lesen wollen und mir das Thema selbst zum Hals heraushängt: DOCH! Es gab 2G. Doch, es wurden gesunde Menschen aufgrund der Vermutung, sie könnten Brunnenvergifter - Entschuldigung - Pandemietreiber sein, vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Doch: Viele der Maßnahmen waren weder evidenzbasiert noch verhältnismäßig noch alternativlos noch mit dem GG vereinbar. Doch: Es wurde Hass und Hetze gesät und nicht wenige haben ihre Erde bereitwillig zur Verfügung gestellt bzw. kräftig gedüngt.
Und ja: Es ist erschreckend, wie oft man in den letzten Wochen mit der Aussage konfrontiert wurde, dass dies alles nicht stimmen würde. Die „Ungeimpften“ hätten jederzeit überall hingedurft, sie hätten sich ja nur testen lassen müssen.
Nein!
Wie? Das stimmt nicht, das erfindest Du, weil du ein VT bist.
Sinnlos. Hier kann man nicht mehr weitermachen, nicht, ohne sich vorher seiner möglichst reifen Abwehrmechanismen bewusst zu sein.
Und jetzt?
Aufarbeitung wird es bis auf Weiteres nicht geben. Ich sage nicht, dass es diese nicht geben müsste, aber die Wahrscheinlichkeit geht zum jetzigen Zeitpunkt gegen Null. Und ich verstehe es sogar. Ich heiße es nicht gut, aber ich verstehe es.
Arbeit, Belastung, Anstrengung und Stress hatte und hat man genug. Da braucht man niemanden, der einem noch eine Zusatzarbeit aufbürdet.
Und Personen aus der Verleugnung herauszureißen und in die Sublimierung bringen zu wollen ist nahezu unmöglich.
Man könnte gemäß der allseits akuten Sprachhygiene vielleicht von Aufräumen und Renovierung sprechen. Beide Worte implizieren, dass danach etwas ordentlicher und neuer ist, dass etwas besser wird. Und es steckt nicht das Wort „Arbeit“ drin.
Fazit
Selbst in den unreifsten Abwehrmechanismen stecken existenzielle Gefühle. Trotz aller Unsinnigkeit sind sie ein Existenzbeweis für Empfindungen. Und so steckt selbst in den unreifsten Abwehrmechanismen die Hoffnung, dass mit der Zeit Empfindungen wiederbelebt, werden können. Dafür benötigen wir Zeit, Raum, Ruhe, Verständnis und Zärtlichkeit, ja sogar Respekt vor den Gefühlen, selbst wenn die an den Tag gelegten Abwehrmechanismen das Unrecht nicht ausmerzen und zum Teil noch vergrößern.
Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht. - so lautet ein Ausspruch, der die Sinnlosigkeit beschreibt, etwas beschleunigen und erzwingen zu wollen, was man weder beschleunigen noch erzwingen kann. Zudem beschreibt er immanent die Notwendigkeit von Geduld (viel Geduld) auf der anderen Seite und die leise Hoffnung, dass die Zeit das Gras wachsen lassen wird, dass die Zeit irgendwann einmal reif sein könnte, um entsprechend reife Abwehrmechanismen zu verwenden oder schlicht die Wahrheit bei Namen nennen zu können, ohne nur noch „lalala“ zu hören, wenn man unschöne Tatsachen benennt, die das Potential haben, ziemlich viele Personen aus der Bahn zu werfen, wenn diese sich ihren Gefühlen stellen müssen.