Nadine Rebel
Twitter informierte mich über die neuerlichen Aussagen des Bundeskanzlers. Er hätte Friedensaktivisten als gefallene Engel aus der Hölle bezeichnet . Ich reagierte, wie ich mir angewöhnt habe zu reagieren: Mit Skepsis. Alles, was von irgendeiner Stelle behauptet wird, muss zunächst überprüft werden. Nichts kann man einfach so stehenlassen.
Und umso trauriger war ich, als ich feststellen musste, dass Herr Scholz tatsächlich der Meinung ist, wer Frieden für erstrebenswert hält, käme aus der Hölle.
Die Beleidigung
Zunächst wollte ich das Thema gar nicht aufgreifen. Dass die Bürger (m, w, d) am laufenden Band beleidigt werden, ist an der Tagesordnung. Kaum eine Person, die in der Öffentlichkeit steht, die nicht „aus der Rolle fällt“. Idiot, Nazi, Geiselnehmer, Egoist und vieles mehr mussten sich diejenigen, die kritisch sind und waren schon nennen lassen.
Einmal habe ich mich so aufgeregt, dass ich gegen Herrn Karl Lauterbach Strafanzeige gestellt habe, weil ich mich partout nicht als Geiselnehmer bezeichnen lassen wollte. Die Staatsanwaltschaft war der Meinung, dass eine solche Aussage durch die Meinungsfreiheit gedeckt wäre.
Also versuche ich mich an der nächsten Lektion: Beleidigungen hinnehmen, sie nicht ernst nehmen, die Personen, die die Beleidigungen aussprechen nicht ernst nehmen. Es ist deren Meinung. Und während man andernorts der Meinung ist, dass es ein Zeichen von Demokratie sein kann, den falschen Meinungen keine Plattform bieten zu dürfen, nehme ich die Beleidigungen hin. Allerdings empfinde ich es in gewisser Weise als nachvollziehbar und verständlich, dass man Personen, die permanent beleidigen, nicht zuhören möchte.
Meist hat die beleidigende Person keine Ahnung, weder von mir noch vom Sachverhalt im Ganzen, sie kennt mich nicht und geht in beleidigener Weise mit Halbwissen hausieren. Ihr Problem, nicht meins.
Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen - so sagt man.
Nach wie vor finde ich dieses Vorgehen nur suboptimal, da ich lange Zeit der Meinung war, man müsse Menschen mit Respekt begegnen. Ein Teil des Respekts ist es in meinen Augen, die Meinung anderer ernst zu nehmen. Lange war ich auch der Meinung, dass Menschen in hohen Ämtern, von Amts wegen ein Grundmaß an Respekt zustehen würde.
Ich bin also nicht glücklich darüber, dass ich aus Gründen des Selbstschutzes diese Personen nun nicht mehr ernst nehmen kann.
Mir egal, was Du von mir denkst! Erstens hast Du keine Ahnung und zweitens interessiert mich deine Meinung nicht.
Versuchen wir es damit.
Souveränität braucht keine Beleidigungen
Wer bei sich ist, agiert authentisch. Wer authentisch ist, reagiert meist besonnen. Wer besonnen agiert und sich Gedanken macht, stärkt die eigene Glaubwürdigkeit.
Auch authentische Menschen ändern ihre Meinung. Festgefahrene Meinungstreue kann auch Sturheit sein. Manchmal zeugt es von größerer Charakterstärke, seine Meinung zu ändern, statt verbissen an dieser festzuhalten.
Insofern sehe ich es nicht grundlegend als Problem, wenn Politiker (m, w, d) ihre Meinungen ändern, sich eines Besseren belehren lassen und sich auch hinsichtlich dessen, was sie vertreten, verändern.
Nachvollziehbar muss es für mich sein, logisch durchdacht, argumentativ belegt, ethisch und ehrlich.
Es mag an meinem mangelnden Intellekt liegen, doch warum Personen, die Frieden wollen, aus der Hölle kommen, verstehe ich einfach nicht.
Also begebe ich mich selbst auf die Suche nach Logik, nach Belegen und nach ethischen Vorstellungen.
Alle Finger und die Daumen
Alle Daumen sind Finger, nicht alle Finger sind Daumen.
Dieses einfache Beispiel hat mir immer geholfen, wenn ich Situationen von beiden Seiten zu betrachten versuche.
Alle Friedensverfechter wollen, dass das Töten aufhört, aber nicht alle, die wollen, dass Frieden eintritt, wollen dies nur aus dem Grund, dass das Töten aufhört.
Es gibt Personen, die wollen, dass der Krieg endet, weil sie einen Sieg „ihrer Mannschaft“ wollen. Und es gibt Personen, die wollen, dass der Krieg endet, weil sie sich ein Ende des Leids, des Sterbens, der Grausamkeit wünschen.
Mit diesem Frieden, der ein Ende des Leids, der Tränen, der Verluste, der Sterbenden und der Grausamkeit bedeuten würde, wäre der Grundkonflikt nicht aus der Welt geschafft.
Die Schuldfrage wäre nicht geklärt, aber wenigstens würde das sinnlose Sterben aufhören.
Besser vorgestern als übermorgen.
Warum kann man das wollen? Weil man an die Menschen denkt, weil man die Familien vor Augen hat, die Leiden, weil man körperliche und seelische Schmerzen bereits selbst erlebt hat, weil man sich in die Lage anderer Menschen hineinversetzt und diesen Menschen kein Leid und nichts Schlechtes wünscht - egal auf welcher „Seite“ diese Menschen stehen.
Das Leid soll aufhören. Der Schmerz soll aufhören. Die Tränen sollen versiegen.
Dann kann man die Schuldfrage klären.
Entweder - Oder
Und gemäß dem oben verwendeten Vergleich habe ich heute das Gefühl, dass alle Finger Daumen sind.
Wer für Frieden ist, ist gleichzeitig dafür, dass der Aggressor Recht bekommt.
Wer für Frieden ist, der ist dafür, dass der „falschen“ Partei entsprochen wird.
Wer für Frieden ist, ist dafür, dass das Leid in einem Land aufhört und in einem anderen weitergeht.
Eben nicht.
Ich möchte, dass das Weinen aufhört, ich möchte, dass die Menschen keinen Schmerz mehr empfinden müssen. Ich möchte, dass Mütter ihre Söhne und Töchter aufwachsen sehen und dass kein Kind seine Eltern, seinen Vater oder seine Mutter verlieren muss. Ich möchte, dass die Menschen nicht frieren und nicht Hunger leiden müssen. Ich möchte, dass die Menschen nicht verrohen und ungezügelte Grausamkeiten sich Bahn brechen. Ich möchte, dass die Waffen niederlegt werden.
Ich möchte nicht, dass eine Seite die Waffen niederlegt und die andere Seite sinnlos weiterwütet.
Ich will Frieden
Ich komme aus der Hölle. So sieht es der deutsche Bundeskanzler.
Direkt aus der Hölle
Scholz hat bereits zu Beginn seiner Amtszeit klargemacht, dass es für ihn keine roten Linien gibt. Sein Verhalten könnte den Eindruck erwecken, dass er die Wahrheit gesagt hat.
Er selbst überschreitet meiner eigenen bescheidenen Meinung nach eine Grenze nach der anderen. Grenzüberschreitungen und Übergriffigkeiten scheinen hier allerdings in Ordnung zu sein, da es sich nicht um Ländergrenzen handelt. Es sind nur Grenzen des Anstands, Grenzen des guten Geschmacks und Grenzen des menschlichen Miteinanders sind, die überschritten werden. Die Territorien, in die eingedrungen wird, sind nicht auf einer Landkarte verzeichnet, die Verletzungen nur seelisch-moralischer Natur.
Man beleidigt keine Menschen. Das ist eine rote Linie.
Man wünscht sich nicht, dass das Töten weitergeht. Das ist eine rote Linie.
Man macht sich nicht lustig über die Personen, für die man arbeitet. Das ist eine rote Linie.
Man achtet andere Menschen und schreit sie nicht an. Das ist eine rote Linie.
Stimmt. Es gibt für Herrn Scholz allem Anschein nach keinen roten Linien.
Reich des Teufels
Da die Hölle das Reich des Teufels ist, in welches sich selten Engel verirren, kann man die Aussage unseres Bundeskanzlers auch anders verstehen:
Wer sich für Frieden einsetzt, will nicht mehr länger in der Hölle sein.
Wer sich für Frieden einsetzt, der will nicht mehr weiter in einem Reich voller Leid und Grausamkeit leben.
Wer sich für Frieden einsetzt, der will nicht mehr mit dem eigenen Verhalten andere in die Hölle befördern.
Wer sich für Frieden einsetzt, kehrt der Hölle den Rücken.
Engel
Man mag Scholz seine Unkenntnis verzeihen. Es steht ihm frei, Vergleiche zu wählen, die davon zeugen, dass er sich mit dem Christentum nicht auskennt.
Engel halten sich selten bis nie in der Hölle auf. Gefallene Engel waren Himmelswesen, die bei Gott wohnten und von ihm ihre Aufgaben bekamen. Weil sie sich falsch verhielten, wurden sie aus dem Himmel verstoßen und fielen hinab, hinab in die Hölle, wo sie zu Dämonen wurden.
Engel können also nicht aus der Hölle fallen.
Engel sind gute Wesen. Engel kommen in der Bibel, im Judentum, bei den Christen, im Koran und bei den Muslimen vor. Wie schön.
Engel sind demnach Wesen, die für die Menschen da sind, egal welchen (weltlichen) Glauben diese haben. Somit kann man Engel als Vorreiter der Religionsfreiheit betrachten.
Engel bekommen ihre Aufgaben von Gott und stehen den Menschen hilfreich und schützend zur Seite. Sie begleiten und beschützen uns, sie versuchen, das Negative von uns fernzuhalten, sie bewahren uns vor Unheil, sie mahnen uns, das Gute und Richtige zu tun.
Der berühmteste gefallene Engel war zunächst Gottes Lieblingsengel. Luzifer, der Lichtbringer.
Er begehrte auf, er wollte mehr Macht, er wurde verstoßen, er bekam sein eigenes Reich.
Und sollte es so sein, dass sich die Engel in die Hölle verirrt haben und nun gegen diese Hölle aufbegehren, weil sie sich vom Teufel nicht mehr alles sagen lassen wollen, weil sie in den Himmel zurückkehren wollen, weil sie genug haben von den Geschichten, die in der Hölle erzählt werden und weil sie sich nicht mehr mit falschen Versprechungen locken lassen wollen, weil sie stark sind und der Versuchung widerstehen können. Sollte das alles so sein, dann bin ich gern ein gefallener Engel aus der Hölle.