Nadine Rebel
Wie bekomme ich als Frau die Füße auf den Boden? Wie kann ich (endlich) erfolgreich werden? Warum bin ich nur so unstrukturiert und haltlos? Woran liegt es, dass ich mich überfordert fühle? Ich bin doch selbständig und fleißig. Die Antworten erhalte ich von einem jungen Mann, der mich ungefragt und dennoch persönlich mittels einer aufwendig gemachten teuren Broschüre anspricht. Mein Retter?
Auf Du und Du
Wie lieb. Endlich mal ein netter junger Mann, der mich da so unverblümt anschreibt, weil er glaubt, nicht nur meine missliche Lage erkannt zu haben, sondern mir als Frau auch eine Lösung anbietet, die ich natürlich ohne ihn nicht umsetzen kann.
Er kümmert sich um mich. Er offeriert mir, alle meine Probleme lösen zu können, er lockt mit Freundlichkeit und Verdienst. Ich darf dabei sogar in meinem Arbeitsbereich weiterarbeiten, nur eben richtig, nicht so, wie ich das bisher gemacht habe. Das ist aber nicht schlimm, schließlich ist er ja jetzt da, mein Retter.
Und weil wir uns so gut kennen und er um meine tiefsten Sorgen weiß, sind wir natürlich per „Du“.
Hintergrund
Ein großer Umschlag. Die Adresse handschriftlich. Die Schrift eher so, wie man sie klischeehaft dem weiblich (gefühlten oder interpretierten) Geschlecht zuordnen würde. Schwungvoll, weich. Die handschriftlich aufgebrachte Adresse suggeriert Zuwendung, immerhin muss man(n) sich dafür Zeit nehmen.
Hm, wer mir da aus Berlin wohl schreibt?
Gut gemacht: Das Interesse ist geweckt, da ich tatsächlich keinen 08/15 Werbebrief vermute.
Ich öffne den Umschlag und finde ein persönliches Anschreiben auf festem Papier. Die Anrede in Schreibschrift, die Unterschrift in Schreibschrift. Aber nicht mehr handschriftlich.
Hat nur für die äußere Hülle gereicht.
Was steht denn da?
Es geht um mich. Es geht um mein Business. Es geht darum, dass ich endlich so gesehen werde, wie ich es verdiene.
Jeder Mensch, der schon mal an sich gezweifelt hat, ist nun getriggert. Jeder Mensch, der schon mehr als ein paar Stunden im Berufsleben verbracht hat, ist nun skeptisch.
Und von wem ist der Brief geschrieben? Ein Team. Nicht nur eine Person, sondern ein ganzes Team will sich meiner annehmen und erkennt die besonderen Herausforderungen, denen man sich gerade als Frau, die im Geschäftsleben bestehen will, stellen muss.
Das geht nicht ohne Hilfe. Da muss schon ein ganzes Team her!
Dann die Broschüre. Sie beginnt mit einem persönlichen Vorwort.
Explizit werde ich als „liebe Leserin“ angesprochen, nicht ohne im ersten Satz darauf einzugehen, dass es meine Pflicht ist, diese Broschüre zu lesen.
Jawoll Sir! Yes Sir! - Schließlich bin ich ja ein braves Mädchen, sonst wäre mir die Gunst dieser Aufmerksamkeit auch nicht zuteilgeworden.
Wie ich jetzt von einem Team auf einen „Sir“ komme? Nun, weil mich hier ein junger Mann anschreibt, mit einem Bild, welches fast die Hälfte des persönlichen Vorworts einnimmt und locker auch bei Tinder eingesetzt werden könnte. Smart und sexy, der junge Kerl, wie er mich da neckisch angrinst. Schnittchen! Und der hat Interesse an mir? Da werde ich glatt ein wenig rot und verlegen!
Und er spricht mir aus der Seele (also er meint es zumindest). Da steht etwas von meinem bisher unstrukturiertem Alltag, aus dem er mich befreien kann und davon, dass ich dafür noch nicht einmal meine weibliche Intuition aufgeben muss. Dass muss er wissen, so als Mann!
Wie großzügig!
Ich bin überfordert
Er spricht direkt die von mir ab und an gefühlte Überforderung und die damit verbundenen Unsicherheiten an und: Er kann und wird mir helfen! Er hat auch schon 7 Jahre Erfahrung.
Natürlich ist die Broschüre, die jetzt schon als Magazin dargestellt wird, keine Werbebroschüre, wie ich sie schon kenne. Nein es ist ein Dossier, welches mich inspirieren kann. Ich bekomme Expertenwissen. Wow!
Gut, ich muss zunächst einmal die Begrifflichkeiten sortieren: Broschüre, Magazin, Dossier?
Dass ich diese Verquickung seltsam finde, liegt wahrscheinlich an meiner unstrukturierten weiblichen Art.
Wen spricht das „lecker Schnittchen“ denn an? Gesundheitsberaterinnen, Life-Coachinnen oder Fitnesstrainerinnen - das darf ich mir aussuchen.
Alles ohne Sternchen und ohne Binnen-I. Richtet sich wirklich nur an Frauen.
Der Business-Bachelor hat mich erwählt. Ob ich mir ein Glas Prosecco gönnen soll? Mal gucken, vielleicht liegt ja auch noch eine Rose im Briefkasten.
Vom Briefkasten zurück
Die Rose hat bestimmt eine Nachbarin geklaut, ich habe auf jeden Fall keine gefunden.
Aber was will der smarte Herr mit dem französischen Namen denn nun? Ich blättere weiter im Dossier, Magazin oder der Broschüre.
Schade. Jetzt spricht er von typischen Problemen, die alle Frauen haben, die als Fitnesstrainerinnen, Life-Coaches oder Ernährungsberaterinnen arbeiten.
Alle! Ich dachte, er spricht explizit mich an. Mein Held, mein Retter. Leider scheine ich für ihn doch nur eine typische Frau mit typischen Frauenproblemen zu sein, die Frauen, die meinen, selbständig arbeiten zu können, nun mal haben. Typisch eben.
Typische Frauenfehler
Was sind denn das für Probleme, die der Frauenflüsterer erkannt zu haben glaubt?
Aber ich soll mir keine Sorgen machen. Das sind absolut gewöhnliche Probleme.
Gewöhnlich? Ich bin doch nicht gewöhnlich.
So gewöhnlich die Probleme aller Frauen sind, so außergewöhnlich ist die Lösung, die mir der smarte Gentleman auf den nächsten Seiten zeigen wird. Er verspricht mir, die Geheimnisse zu lüften.
Keine Geheimniskrämerei mehr
Zunächst einmal soll ich mir Gedanken darüber machen, wo ich überhaupt meine Kunden finde, dann sollte ich mich davon verabschieden, Kunden individuell zu betrachten und zum Schluss brauche ich Kundennachschub.
Echt jetzt?
Ich muss aufhören, meine Zeit zu verkaufen. Ich soll Ergebnisse verkaufen. Ich muss den Kunden zeigen, dass sie ohne mich nichts wert sind. Ich muss sie dabei alle über einen Kamm scheren und ihnen zeigen, dass sie ohne meine Leistung, keine Ergebnisse oder Erfolge für ihr Leben erwarten können.
Da hat wohl jemand seine eigene Broschüre gelesen.
Und um mir zu zeigen, wie typisch meine Probleme sind, werden nun 3 Fallstudien vorgestellt.
Misses Blumenkohl, Frau Granatapfel und eine Heilerin
Nach der befruchtenden Beratung durch den Retter-Ritter hat die Ernährungsberaterin nun monatlich 5stellige Umsätze, die zweite Dame konnte endlich ihr Unternehmen auf ein festes Fundament stellen und ist nicht mehr vom Zufall abhängig und die Heilerin ist geheilt und kann sogar einen 6stelligen Monatsumsatz aufweisen.
Der Kerl versteht was von Frauen. Zweifelsohne!
Im Grunde ist es überflüssig zu erwähnen, doch auch hier hilft mir mein Ritter nochmals auf die Sprünge: Die Fallstudien zeigen, wie ähnlich mein Business und meine Probleme zu den dargestellten sind.
Schließlich sind alle Frauen gleich, haben typische Probleme und Kundinnen dürfen nicht individuell betrachtet werden.
Falls ich mich dennoch nicht wiedergefunden haben sollte, wird nun nochmals aufgelistet, wenn der Herr zu erretten gedenkt:
Und noch einige Innen mehr.
Wohin die Reise geht
Zu ihm. Nur zu ihm.
Sollte ich bisher von den schönen Fotos des dynamischen Halbgottes nicht überzeugt worden sein, helfen die beiden folgenden Doppelseiten. Zwei Doppelseiten zeigen ihn. Ihn beim Arbeiten. Ihn in der Beratung. Ihn im Kundengespräch. Ihn im Team. Ihn am Telefon. Ihn bei der Präsentation. Ihn beim Vortrag. Ihn am Handy.
Ein Mann, der immer und überall für mich da sein will - und für alle anderen Business-Innen auch! Wow! Das ich das noch erleben darf.
FAQ
Er oder sein Team betreuen bundesweit fast 500 Klientinnen. Jetzt verstehe ich auch, warum ich immer nur Fotos meines Prinzen sehe, aber immer von „wir“ die Rede ist.
Das hat was Höfisches. Zumindest spricht er nicht in der dritten Person von sich selbst, wie das bei Königen und beim Adel üblich war. Das „wir“ zeigt nur, dass er einen Hofstaat hat, der für ihn arbeitet.
Quid pro quo. Was mir klar sein sollte, das Erstgespräch ist kostenlos, weil man als Frau sowieso wiederkommt. Anfixen oder beim ersten Daten die Rechnung im Restaurant bezahlen, schmeicheln, um den Finger wickeln, Bedürfnisse wecken, die nur er befriedigen kann.
Du kommst sowieso wieder, du unstrukturiertes Frauengeschöpf, welches errettet werden muss.
Persönliche Worte zum Abschluss
Und sollte auf den vorangegangenen 19 Seiten der DIN A 4 Broschüre (Magazin, Dossier) noch nicht klar geworden sein, warum ich nun endlich handeln muss, dann helfen vielleicht die mahnenden Worte zum Schluss:
Es gibt Licht am Ende meines Lebenstunnels, aber ich muss schon bereit sein, die Augen zu öffnen. Mein Retter-Ritter weiß ganz genau, wie sich mein Leben anfühlt (O-Ton). Und er kann mir helfen, ich muss nur den ersten Schritt machen.
Danke
Es hat Spaß gemacht, sich das Dossier so genau zu Gemüte zu führen. Lieber Bachelor, ich steige hier aus. Ich glaube nicht, dass wir zusammenpassen. Ich finde es lobenswert, dass Du dich so sehr für uns unstrukturierte Frauen einsetzen willst. Ich finde es großartig, dass Du mich erretten möchtest, aber ich will gar nicht gerettet werden.
Außerdem bin ich beleidigt. Denn obwohl Du alle Frauen, alle Frauenprobleme und alle Schwierigkeiten, die Frauen im Beruf haben so gut kennst und so viele Berufsgruppinnen angesprochen hast, hast Du mich vergessen. Denn du hast nicht von Unternehmensberaterinnen, nicht von Autorinnen, nicht von Pole Dance Trainerinnen und auch nicht von Yoga-Trainerinnen gesprochen.
Die könntest Du noch in deine Liste aufnehmen, vielleicht melde ich mich dann mal bei dir, da ich ja sicher sein kann, dass Du in mir kein Individuum siehst, sondern mit bestem Beispiel vorangehst und die Kundinnen alle über einen Kamm scherst.