Nadine Rebel
Vor vielen Jahren überraschte mich ein Kollege mit der Aussage, sein Bestreben wäre die Mittelmäßigkeit. Seine Erklärungen klangen allerdings so plausibel, dass ich immer wieder darüber nachdenken musste. Ich gebe die Gedanken wieder, es müssen dabei nicht meine eigenen Überzeugungen sein.
Geborgen in der größten Gruppe
Die meisten Menschen sind einfach normal. Sie sehen durchschnittlich aus, sind durchschnittlich groß, erbringen durchschnittliche Leistungen. Ihre Wünsche sind durchschnittlich und mit den Wünschen der meisten anderen vergleichbar. Das Angebot zur Bedürfnisbefriedigung durchschnittlicher Menschen ist groß, als durchschnittlicher Mensch wird man also selten enttäuscht.
Durchschnittliche Menschen finden viele Gleichgesinnte, können sich mit vielen Personen unterhalten, müssen sich nicht erklären, fühlen sich nicht einsam, müssen nicht lange suchen, bis sie jemanden finden, der sie als Mitglied der eigenen Gruppe erkennt.
Als Mensch, der so ist wie die meisten anderen Menschen, muss man sich nie Sorgen machen, Ablehnung zu erfahren, nicht die richtigen Klamotten zu finden, seine Vorstellungen nicht in die Tat umsetzen zu können. Niemand hält einen für etwas Besonderes, niemand erwartet große Taten, niemand sucht nach Fehlern.
Man kann sich in der großen Gruppe geborgen und aufgehoben fühlen.
Herausragende Leistungen machen einsam
Besondere Fähigkeiten und hervorragende Leistungen machen einsam. Das beschreiben schon die Adjektive „besonders“ und „hervorragend“. Ist man besonders, gehört man nicht mehr zur Gruppe. Ragt man hervor, kann man sich nicht verstecken.
Die Augen sind auf diese Personen gerichtet. Da man das, was man nicht kennt, entweder bewundert oder ablehnt, ist klar, dass man nie gleichwertig behandelt werden wird.
Mit Glück findet man ein paar Gleichgesinnte, kann eine Peer-Group bilden. Fakt ist, dass man nie Teil einer großen Gemeinschaft sein wird. Immer ein wenig mehr allein, immer ein wenig entrückt, verrückt, immer einer Minderheit zugehörig.
Mittelmaß kann man überall brauchen
Zu den Bedürfnissen nach sozialem Miteinander kommt das Problem der Einsatzfähigkeit. Wer alles oder recht viel in befriedigendem Maße kann, kann überall eingesetzt werden, wird überall gebraucht. Wer ein paar herausragende Fähigkeiten hat, die allerdings von wenigen anderen als nützlich oder nutzbar erachtet werden, der hat Pech gehabt.
Ein bisschen wie ein blindes Huhn, welches ab und an mal ein Korn findet: Ob es satt wird, hängt vom Zufall ab.
Plädoyer für die Mittelmäßigkeit
Auch die Zeit widmet der Mittelmäßigkeit einen Artikel und erklärt in versöhnlicher Art und Weise, dass es vollkommen in Ordnung wäre, sich nicht dem unerfüllbaren Wunsch hinzugeben, ständig besser sein zu wollen oder zu müssen. Professor Ulrich Bröckling vom Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg erklärt in diesem Artikel:
"Wer bei der Arbeit, aber auch in fast allen anderen Lebensbereichen, unter Konkurrenzdruck steht, hat das Gefühl, Alleinstellungsmerkmale entwickeln zu müssen, um andere zu übertreffen. Weil aber auch die Konkurrenz nicht schläft, ist das eine unerfüllbare Aufgabe"
Wer dieses Unterfangen gar nicht erst beginnt, der muss nicht mit Argusaugen auf seinen Nachbar gucken, der muss sich nicht überlegen, was er besser machen könnte, welche Leistungen er optimieren kann und wie er sich stets weiterentwickelt.
Die Autorin des Artikels der Zeit, Jessica Wagener, ist dabei der gleichen Meinung:
„Was passiert denn, wenn wir uns nicht mehr dauernd anstrengen und einfach sagen: Och, ich bin semi, mittel, medium? Es liegt ein gewisser Frieden in der Akzeptanz der eigenen Mittelmäßigkeit. Auch, wenn der nicht ganz leicht zu erreichen ist.“
Sich nicht mehr ohnmächtig dem Druck ausliefern. Frieden mit sich schließen und durchatmen. Gar nicht mehr besser werden wollen. Dem Wunsch, etwas besonders gut machen zu wollen, einfach entsagen.
Das Restaurant
Betrachten wir ein einfaches Beispiel. Wer nur mittelmäßig kocht, der freut sich auf jeden Restaurantbesuch, weil dort etwas Besseres zu finden ist.
Dass dabei das Restaurant selbst auch mittelmäßig sein darf, steht außer Frage, denn es handelt sich zum einen um mittelmäßige Kochkünste einer Privatperson und zum anderen um mittelmäßige Kochkünste Restaurants. Um zwei unterschiedliche Bereiche demnach.
Die mittelmäßig kochende Privatperson hat also viel Auswahl bei der Wahl eines mittelmäßigen Restaurants.
Was aber passiert, wenn man als Privatperson sehr schmackhaft, abwechslungsreich und fast unschlagbar lecker kocht? Die Familie und alle Personen, die in den Genuss dieses Essens kommen, erachten diesen hohen Standard mit der Zeit als normal.
Ein Restaurantbesuch wird mit der heimischen Qualität verglichen. Nicht selten ist man danach enttäuscht und kommt zu dem Schluss: Da hätten wir auch zu Hause bleiben können.
Der gute Hobbykoch hat durch seine herausragenden Fähigkeiten sich und anderen den Spaß am Restaurantbesuch genommen. Er selbst hat sich die Möglichkeit des „Urlaubs“ kaputtgemacht, weil keiner auf seine Fähigkeiten verzichten will.
So ist das mit besonderen Leistungen. Wäre er mal mittelmäßig geblieben.
Weniger angreifbar
Wer im Mittelmaß bleibt, ist nicht besser und auch nicht schlechter als andere. Somit ist die Person nicht angreifbar. Was will man der Person vorhalten? Dass sie so ist wie alle anderen?
Und da man selbst ja auch zu „allen anderen“ gehört, lässt man das lieber.
Ruhe. Frieden. Konfliktfreies Mittelmaß.
Besonderes muss entfernt werden
Tatsächlich bin ich in meinem Berufsleben mehr als einmal damit konfrontiert worden, dass nicht das Besondere, sondern das Mittelmaß bessere Erfolgschancen hat.
Ist etwas unvergleichlich, fällt ein wichtiger Aspekt weg: Der Vergleich.
Man kann also schon ein wenig nach oben oder unten ausweichen, aber nur insoweit man noch zur Vergleichsgruppe gehört. Entfernt man sich komplett von dieser und bietet etwas Einzigartiges, etwas Bahnbrechendes, eine Innovation oder eine überdurchschnittliche und hervorragende Leistung, dann muss man sich nur wieder die verwendeten Adjektive ansehen, um zu verstehen, was passiert.
Auch in einem Team gehört man dann nicht unbedingt zu den Personen, die ein Unternehmen halten möchte.
Nehmen wir an, ein Unternehmen beschäftigt 20 Personen, die für ähnliche Teilbereiche eingesetzt werden sollen und Kunden- oder Außenkontakt haben.
18 bringen durchschnittliche Leistungen, eine Person ist bemerkenswert schlecht, eine Person liefert Überragendes.
Verabschiedet sich das Unternehmen nun sowohl vom Schlechtesten als auch vom Besten, ist der Friede wiederhergestellt.
Das Unternehmen wäre dumm, nur den schlechtesten Performer zu entlassen, um dann im nächsten Schritt den übrigen 18 Personen die Aufgabe mitzugeben, sie sollen ihre Leistungen verbessern und sich am Besten orientieren.
Zum einen wird das nicht funktionieren und zum anderen liefert man Kunden einen Vergleich, der unter Umständen negativ für 18 Mitarbeiter ausfallen könnte.
Erst durch die Existenz des hervorragenden Mitarbeiters haben andere Menschen die Möglichkeit zu vergleichen. Der hervorragende Mitarbeiter könnte der Baum der Erkenntnis sein, ihn zu halten eine Gefahr. Irgendeine Person könnte wie die Schlange auf die Idee kommen, andere darauf hinzuweisen, warum diese sich mit einem schlechteren Service zufriedengeben, wenn es doch auch anders geht, was XY ja zeigt.
Bessere Ressourcen-Bilanz
Man muss sich weniger anstrengen, wenn man gar keine Ambitionen hat, das Mittelfeld zu verlassen. Man fährt nicht vorneweg, sondern im Windschatten vieler anderer. Man geht keine neuen Wege, sondern läuft anderen hinterher.
Diese haben den Weg bereits geebnet, die Steine bereits entfernt.
So viel schlechter geht es dem „Hinterherläufer“ nicht und dem Pionier geht es auch nicht viel besser.
Also warum Ressourcen verschwenden. Wer weiß, wofür man diese noch gebrauchen kann.
Wer sich auf andere verlässt, ist verlassen
Man muss nur stumpf weitermachen. Man muss nicht viel denken, nicht zweifeln, nicht zögern, sich nicht in Frage stellen. Man läuft nicht Gefahr abgelehnt zu werden.
Doch was wäre, wenn man mit diesen Argumenten wirklich alle von der Mittelmäßigkeit als erstrebenswertes Ziel überzeugen könnte?
Wenn auch der Pionier erkennen würde, dass die anderen zwar hinterherlaufen, allerdings kaum Unterstützung anbieten und nicht wirklich mit ihm verbunden sind. Er räumt die Steine aus dem Weg und ebnet denselben. Selbst schuld, irgendeiner muss es ja machen.
Übrigbleiben würde ein stumpfsinniges Vakuum, in dem alle die Farben ihrer Kleidung wechseln, um dann doch wieder alle die gleiche Farbe zu tragen - wie im Film Wall E.
Wie gut, dass es immer Pioniere geben wird, die gar nicht anders können, als ihrem Streben nachzugeben, weil es ihre Überzeugung und ihr Charakter ist.