Nadine Rebel
Am 31.10.2022 endete das Jahr 2022. Zumindest, wenn man „alternative Kalender“ betrachtet. Samhain (Irland), Halloween, Erntedank, Dia de los muertos (Mexiko), Entschlafenengottesdienst, Allerheiligen, Allerseelen, Diwali (Indien).
Mit Samhain kann hierzulande kaum jemand etwas anfangen, Halloween gilt als kommerzialisierter amerikanischer Brauch, Mexiko hat eine eigene Kultur und Religion steht sowieso auf einem anderen Blatt.
So viele Unterschiede und dennoch sind alle Bräuche im Glauben vereint, dass uns die Toten nahe sind, dass die Geister, die guten wie die bösen, Eintritt haben. Eine Zeit, in der man sich für die Ernte bedankt, die Toten geleitet, mit dem Licht das Dunkel vertreiben will. Fast überall auf der Welt. Fast überall zur gleichen Zeit. Irgendwie seltsam.
Magie
Ich bin christlich und gläubig. Und meinen Glauben lege ich so aus, wie es mir passt. Geschenkt. Bedeutet, dass ich auch einige Rituale des Wicca-Kults großartig finde, die Existenz von Magie nicht als Widerspruch zur christlichen Religion sehe und die Mystik, die den indischen Gottheiten innewohnt, mehr als nur faszinierend finde. Ich glaube an Engel und an Mächte, die wir nicht sehen können. Ich glaube an ein Leben nach dem Tod und ich glaube daran, dass am Ende alles gut wird, selbst wenn ich an einigen Tagen mehr zweifle als glaube.
Magie ist für mich der Inbegriff des Gebots, seinen nächsten wie sich selbst zu lieben. Es gibt keine weiße und schwarze Magie. Magie ist streng genommen nur eine andere Auslegung des Sinnspruchs: „Was Du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ – besagt sie doch, dass alles, was man aussendet auf einen zurückfällt. Karma könnte man es vielleicht auch nennen. Karma als Magie mit Zeitverzögerung. Sende ich Gutes aus, wünsche ich auch meinen Feinden, dass sich deren Leben so ändern mögen, dass sie mich nicht mehr behelligen müssen und vollkommen glücklich werden können, so tue ich mir damit selbst Gutes. Wünsche ich denen, die mir übel mitgespielt haben, Böses, so wird auch mir Böses widerfahren.
Kuchen und Rotwein im Fenster
Jedes Jahr am 31. Oktober wird ein Glas Rotwein und ein Stück Kuchen zusammen mit einer brennenden Kerze ins Fenster gestellt. Wegzehrung für die Toten. Ein Zeichen dafür, dass man weiß, dass sie sich nun auf den letzten, den endgültigen Weg aus dem Reich der Lebenden in das Reich der Toten machen und dass an diesem Tag die Welten noch einmal ganz nah beieinander liegen. Dass man trotz Nebel und Dunkelheit den Blick an das andere Ufer werfen kann, dass die Toten einen sehen, dass wir die Toten sehen, dass wir ein letztes Mal einander zuwinken können und dürfen.
Und wenn am nächsten Tag das Tageslicht das Dunkel der Nacht vertreibt, bleibt das Wissen, dass die, die tot sind, nur aus der Sichtweite gegangen sind, dass sie nun in einem anderen Land sind.
Persönliche Beschränktheit
Mir ist sehr wohl bewusst, dass diese Glaubensmixtur für viele Personen nicht nachvollziehbar ist. Das ist nicht schlimm. Und die in der Überschrift erwähnte „persönliche Beschränktheit“ beziehe ich auf mich selbst. Ich selbst war noch nie in Amerika oder Neuseeland oder Australien. Ich war sogar noch nie in Norwegen oder Schweden. Ich kenne Menschen, die dort wohnen oder dort im Urlaub waren. Ich lese davon in Büchern und Atlanten. In der Schule hat man sich mit der Geschichte und Politik der Länder auseinandergesetzt. Doch all das ändert nichts an der Tatsache, dass ich selbst noch nie dort war und denen glauben muss, die davon erzählen.
Hm. Es gibt auch Menschen, die von Engeln und Geisterwesen erzählen, die sogar mit ihnen gesprochen haben. Ich kann darüber in Bücher lesen und in manchen Bereichen scheint fast schon wissenschaftlich geforscht worden zu sein. Im Buch „Protokoll eine Wiedergeburt“ von Morey Bernstein kann man so ein abstruses Erlebnis minutiös miterleben.
Wo ist also für mich der Unterschied?
Wenn ich das Argument „Das habe ich noch nie gesehen, das gibt es nicht!“ als unumstößliche Wahrheit ansehe, dann gibt es auch Amerika, Schweden, Neuseeland und Australien nicht.
Das liegt aber eben nicht daran, dass das Argument per se gut ist, sondern daran, dass ich mich nur auf das verlasse, was ich selbst gesehen und erlebt habe und anderen, die davon erzählen nicht glauben will.
Erntedank
Die Tage werden kürzer. Der Winter steht bevor (winter is coming). Die Nächte werden kälter und die Ernte ist eingefahren. Jetzt heißt es die Dunkelheit zu durchstehen, im Glauben, dass der Frühling wiederkommt. Warum? Weil es bisher immer so war.
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben."
Rainer Maria Rilke - Herbsttag
Für all die Länder, denen der dunkle Winter bevorsteht, mag das plausibel erscheinen. Das könnte auch die natürliche Erklärung der Bräuche in Indien und Mexiko sein. Denn auch hier werden die Tage kürzer.
Für mich persönlich greift diese weltliche Erklärung zu kurz.
Diwali
Diwali, das hinduistische Lichterfest, welches jährlich Ende Oktober/Anfang November in Indien, Sri Lanka, Nepal und anderen, vom Hinduismus geprägten Ländern (Mauritius, Fidschi, Trinidad, Tobego, Singapur, Südafrika – beispielsweise) über mehrere Tage gefeiert wird, steht für die Erleuchtung der äußeren und inneren Welt. Der Mensch soll sich daran erinnern, dass er ein göttlich erschaffenes Wesen ist, dass das Licht die Dunkelheit besiegen, dass das Gute über das Böse Herr werden wird, dass die Erkenntnis die Unwissenheit besiegt.
Auch das Diwali-Fest steht für einen Neubeginn (2022 begannen die Feiern am 24. Oktober).
Dia de los Muertos
Der Totentag ist einer der wichtigsten mexikanischen Feiertage. Die Vorbereitungen beginnen bereits Mitte Oktober, das große Fest steigt am 31. Oktober und den Ausklang finden die Feierlichkeiten am 01. bzw. 02. November mit Allerheiligen und Allerseelen.
Der „Dia des los Muertos“ wurde von der Unesco im Jahr 2003 zum Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit ernannt und im Jahr 2008 in die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit übernommen.
Samhain
Eines der großen irisch-keltischen Feste. Die Samhain-Feierlichkeiten beginnen am Abend des 31. Oktober und dauern bis zum 01. November. Früher galt der 01. November als Beginn des neuen keltischen Jahres. In Wales als „Nacht des Winteranfangs“ bezeichnet. Diese Nacht galt als eine der 3 Geisternächte.
An Samhain haben die Menschen Zugang zu den Wesen der anderen Welt, so glaubt man. Man sollte nicht unbedingt das Haus verlassen, weil man auf Repräsentanten der Vorzeit (Zombies, nicht Dinosaurier) treffen könnte.
Römische Mythologie
Die Welt steht offen. Mundus patet. Einer der Tage, an denen man gemäß der römischen Mythologie wichtige Tätigkeiten, die von Untoten/Geistern/Fabelwesen/Göttern etc. gestört hätten werden können, unterlassen sollte, war der 08. November.
Es wurde davon abgeraten, sich auf See zu begeben, Hochzeiten zu Feiern oder kriegerische und militärische Handlungen vorzunehmen.
Entschlafenengottesdienst
In unserer Kirche feiern wir 3-mal pro Jahr einen Entschlafenengottesdienst. Einer davon findet am 1. Sonntag im November statt. Es ist kein Trauergottesdienst. Es ist ein Gottesdienst zum Gedenken, zum Erinnern, zum Geleit. Ein Feiern der Gemeinschaft, die auch dann noch besteht, wenn die Ewigkeit nur unsichtbar zugegen ist. Ein Feiern eines Familienfestes mit allen Angehörigen, sichtbar und unsichtbar, im Glauben, dass wir uns alle einmal wiedersehen.
Respekt von den Geistern
Natürlich hatte ich als Kind Angst vor den Monstern unter meinem Bett. Angst vor Spinnen. Angst vor der Dunkelheit.
Auch heute liebe ich Licht und erhelle mit Unmengen an Kerzen und Tischleuchten und indirekter Beleuchtung und Lichterketten das Haus. Diese Lichtliebhaberei ist fast so schlimm wie meine Kissen-Manie.
In dem Wissen, dass mir Spinnen nichts tun können und wollen, lasse ich sie in Ruhe. Ich schreie nicht, ich muss sie nicht zwangsläufig entfernen, ich töte sie nicht.
Wenn es schlimm wird, „lasse“ ich sie entfernen. Geschützt und lebend werden sie dann von meinem lieben Mann oder Sohn wieder ins Freie befördert.
Und ich glaube daran, dass man auch die Wesen respektieren sollte, die man nicht sieht. Vielleicht ist das meine persönliche Wokeness-Ergänzung. Ich würde mich in jedem Fall gedemütigt und diskriminiert fühlen, wenn jemand meine Existenz bestreiten würden, nur weil er oder sie oder es mich noch nie gesehen hat. Und wenn ich dann sauer wäre, dann könnte es schon sein, dass ich mir überlegen würde, wie ich diesen ignoranten Lebend-Menschen zeigen könnte, dass ich sehr wohl existent bin.
Also bitte ich die Geister, Rücksicht auf mich zu nehmen und nehme Rücksicht auf sie. Ich habe auch dieses Jahr wieder ein Stück Kuchen und ein Glas Rotwein zusammen mit einer Kerze ins Fenster gestellt.