Nadine Rebel
Heute scheint alles dafür getan zu werden, dass sich ein jeder Mensch (m, w, d) in seiner Haut wohlfühlen kann. Anpassung ist nicht notwendig, wer das Einhalten von Regeln fordert, ist per se diskriminierend und Kritik allerorts unerwünscht. Dabei habe ich persönlich oftmals das Gefühl, dass unter der oberflächlichen Akzeptanz ein Existenz-Shaming betrieben wird, denn eines scheint sicher zu sein: So, wie man ist, ist man eben doch in den Augen vieler nicht gut und schon gar nicht gut genug.
Bodyshaming
Ich bin der Meinung, dass die meisten Menschen sehr gut Body-Shaming betreiben können. Ich kann es. Mein Opfer? Ich selbst. Eines der wenigen Dinge, das fast immer funktioniert. Müde Augen hier, Sumpfknie dort, die generell zu kurzen Beine, die zu kleinen Augen etc. etc.
Selten braucht es dazu eine andere Person, das schaffe ich ganz allein. Denn die Normen, denen heute eigentlich sowieso niemand mehr entsprechen muss, werden weiter proklamiert und vergiftend permanent zäh tropfend den Geist.
Allerdings wurde mir erst vor einigen Wochen vorgeworfen, Bodyshaming zu betreiben. Ich hatte mich erdreistet in meinem eigenen Studio das Trainieren in String-Tangas als unerwünscht zu definieren. Diskriminierend. Jeder sollte sich stets so geben dürfen, wie er, sie, es das gerade will. Wer dagegen ist, diskriminiert und grenzt Menschen aus.
Dieses böse Foul, welches ich mir in meiner Arroganz geleistet hatte, führte dazu, dass ich als Negativ-Beispiel in mehreren Stories aufgeführt wurde („ein Studio, in dem ich nie trainieren wollen würde), dass ich beschimpft wurde und schließlich die Kommentarfunktion bei Insta schließen musste.
Wahrscheinlich tat die gut gemeinte Formulierung meines Posts, dass es sich einige Damen durchaus leisten könnten, ihren nackten Hintern zu zeigen, ihr Übriges. Ich hatte diese Formulierung gewählt, um es freundlich klingen zu lassen. Der von den Lesenden getätigte Umkehrschluss wurde mir zum Verhängnis. Die empörten Damen (ich schätze es waren Damen, ich will nicht schon wieder jemanden diskriminieren) lasen aus meinen Zeilen: Einige Damen können es sich nicht leisten, ihren nackten Po in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Wie ekelhaft von mir. Wie abscheulich. Diskriminierend. Das muss verbreitet werden. Dafür hatte ich einen Nachmittag lang Beleidigungen verdient.
Stimmt. Shame on me!
Ich dachte zwar bisher immer, dass ich eher „Body-Positivity“ fördern würde, aber man lernt bekanntlich nie aus. Denn während des Tanzens, während des Überschreitens der eigenen Grenzen, während des Trainierens eröffnen sich im Allgemeinen sehr viele Möglichkeiten, den Körper neu kennen und lieben zu lernen. Dass dies - sofern es denn einige Damen möchten - nur mit nacktem Po geht und ich ihnen durch meine herablassende Art die Möglichkeit verwehre, war mir neu.
Anpassung unerwünscht
Auf die Gefahr hin, dass ich also weiterhin Bodyshaming betreibe, werde ich daran festhalten. Ein positives Körpergefühl ist für mich nicht zwingend mit dem Präsentieren des Popos verbunden. Das habe ich bisher eher den possierlichen Pavianen attestiert. Ich möchte es in meinem Studio nicht.
Ich gestehe demnach: Ich bin verklemmt.
Und jetzt? Habe ich nicht das Recht, verklemmt zu sein? Darf ich nicht erwarten, dass man das akzeptiert?
Wenn jemand meine konservative Sichtweise nicht teilt und mich deswegen „hated“ und „bashed“, darf ich mich dann angegriffen fühlen, weil ich diskriminiert werde?
Nein.
Die Opfer sind die, die sich nicht überall und in jeglicher Art und Weise präsentieren und ausleben dürfen. Die, die sich an einer überall und in jeglicher Art und Weise gezeigten Art der offenen Präsentation stören, sind immer die Täter.
Ich habe verstanden.
Oberflächliche Freiheit
Die Freiheiten, die heute existieren sind wichtig und dennoch oberflächlich. Ich finde es richtig, dass Tätowierungen ihr negatives Image schon längst verloren haben.
Ich finde es wünschenswert, dass man auf anzügliche Bemerkungen und zotige Witze verzichtet.
Ich finde es gut, dass Pärchen in der Öffentlichkeit zeigen können, wie zärtlich sie miteinander umgehen.
Ich glaube, dass ein Kind in allererster Linie Liebe und Bezugspersonen braucht und dass das Geschlecht dieser Bezugspersonen nur eine sekundäre Rolle spielt.
Und ich begrüße es, dass dies heute alles möglich ist. Möglich zu sein scheint.
Warum „möglich zu sein scheint“?
Wenn dies alles erlaubt ist und nicht nur geduldet (toleriert), sondern respektiert werden sollte, dann gilt dies in beide Richtungen. Und das sehe ich nicht so.
Das oben geschilderte Beispiel ist dabei nur eines von vielen.
Wenn es Menschen gibt, die für sich einen konservativen Lebensstil gewählt haben, oder Personen (vormals biologische Frauen genannt), die keinen Kinderwunsch haben, oder Menschen, die der Meinung sind, es gäbe tatsächlich nur 2 biologische Geschlechter, vor allem in Bezug auf die „natürlich“ Reproduktion ohne medizinische Unterstützung, dann sollte auch das respektiert werden.
Immerhin schaden diese Personen mit ihrer Einstellung, die sie für sich wählen ebenso wenig wie zwei sich küssende Personen des gleichen Geschlechts.
Ich stelle mir mitunter die Frage, ob man noch die Freiheit hat, auf der Einhaltung von Regeln zu bestehen, die Freiheit hat, nach wie vor gerne ein Steak zu essen, die Freiheit hat, etwas als „nicht mein Geschmack“ abzulehnen und mitunter bezweifle ich das.
Tiefgründige Abfälligkeit
Vielmehr habe ich mitunter das Gefühl, dass heute nicht nur Body-Shaming sondern Existenz-Shaming betrieben wird.
Ist der Ruf erst ruiniert
Man muss sich überaus detailliert mit den Ansprüchen, Forderungen und Bedürfnissen einer woken Gesellschaft auseinandersetzen, um zu verstehen, was akzeptiert wird, und was nicht. Denn eines scheint sich herauszukristallisieren: Toleranz ist einseitig.
Man kann nicht darauf hoffen, so angenommen und akzeptiert zu werden, wie man ist, wenn man in den neuen Augen falsch ist.
Und somit fällt man jetzt von der anderen Seite des Pferdes herunter, auf dem man heute nicht mehr reitet, weil tote Gäule keinen Spaß machen und man von fliegenden Einhörnern nicht herunterfällt.
Eines ist klar: Wie man es macht, macht man es verkehrt und ist man von „gestern“ kann man weder auf Akzeptanz noch auf Toleranz noch auf Verständnis hoffen. Irgendwann werde auch ich verstehen, warum dieses Verhalten dann nicht diskriminierend ist.