Nadine Rebel
Mir selbst war die Geschichte, die in einem unserer Gottesdienste angesprochen wurde, neu. Die Metapher um das Blatt und den Punkt. Gefragt, was man links sehen würde, sei die Antwort häufig: Einen Fleck auf einem leeren Blatt. Hier nun der Versuch, das Blatt zu füllen, die Metapher auszuweiten.
Die Farben
Um sämtliche Vorverurteilungen zu vermeiden und keine Gedankenrichtungen vorzugeben, habe ich die Umschreibung des schwarzen Flecks auf dem weißen Papier vermieden, weil die Farben nichts zur Sache tun. Die Geschichte steht symbolhaft eigentlich dafür, dass vielen Menschen eine kleine Unstimmigkeit eher auffallen würde als eine reine Fläche und sich der Fokus auf die Unstimmigkeit legen würde, statt das nahezu Perfekte zu sehen. Das ist eine der möglichen Interpretationen.
Farben machen das Leben bunt
Um verschiedenfarbige Punkte auf das Blatt auftragen zu können, muss das Blatt eine gewisse Festigkeit aufweisen. Jede Farbe, die aufgetragen wird, weicht das Blatt an dieser Stelle ein klein wenig auf.
Wäre das Blatt zu dünn, könnte es die Farbe nicht halten. Je dicker das Blatt, je höher seine Festigkeit, umso mehr Farben kann es aufnehmen, umso kräftiger kann der Farbauftrag werden.
Verteilen sich die vielfarbigen Punkte, entsteht ein neues Muster.
Farben müssen wirken können
Damit die Farben ihre Einzigartigkeit entfalten können, ist es wichtig, dass sie Platz haben. Um jeden neuen Farbpunkt muss ein kleiner Freiraum sein, sollte ein wenig der Grundlage durchschimmern. Das erzielt eine frische Wirkung. Es wäre auch denkbar, die Farben aneinandergrenzen zu lassen. Zwar würde man dann das darunter liegende Papier nicht mehr sehen, dennoch wäre dessen Festigkeit von Nöten.
Ineinanderlaufende Farben
Würde man alle Farben übereinander malen und alle Farben ineinanderlaufen lassen, könnte man am Ende weder das Papier darunter noch die mannigfaltige Vielfalt erkennen. Es würde ein (der Farblehre nach) braun-grauer Einheitsbrei entstehen.
Zudem wäre auch die bereits weiter oben beschriebene Gefahr der Überbeanspruchung der Grundlage wieder zu bedenken.
Die Grundlage schonen
Auch das festeste Papier muss mit Bedacht behandelt werden. Der Farbauftrag erfolgt nicht grob, sondern mit Fingerspitzengefühl. Man malt und zeichnet, lässt ein neues Bild, ein neues Muster entstehen. Man fügt dem Blatt keine Schürfwunden zu und bleibt auch nicht an einer Stelle.
Zu viel, zu grob
Vergisst man beim Farbauftrag, das Papier gleichmäßig zu bedecken, bleibt man zu lange an einer Stelle oder malt mit Gewalt auf einem Punkt herum und übt dabei möglichst viel Druck aus, passiert das, was man ganz rechts sehen kann. Auch hier habe ich keine „Farbe“ gewählt, sondern einen Silberstift. Warum? Ich wollte nur zeigen, was passieren kann, auch hier ist die Farbe, die das Papier zerstört, unerheblich.
Das Papier gibt nach. Es geht kaputt.
Fatal daran ist, dass nun nicht nur das Papier kaputt ist, sondern auch, dass die Farbe, die man an dieser Stelle auftragen wollte, keinen Halt mehr hat und ihrerseits auch nicht mehr wirken kann.
Die Verantwortung dafür, dass das Papier zerstört wurde, trägt nicht die Farbe, sondern die Person, die die Farbe an dieser Stelle unsachgemäß aufgetragen hat.
Je dünner das Papier
Ist das Papier vorher bereits nass, wird ein Aquarell entstehen. Die Farben laufen ohne klare Grenzen ineinander und vermischen sich teilweise. Auch das ist eine sehr schöne Kunstform. Auch so können wundervolle Bilder entstehen.
Allerdings ist zu bedenken, dass man für Aquarellmalerei ein besonderes Papier benötigt. Ist das Papier schon vorher sehr dünn, muss man beim Farbauftrag umso vorsichtiger sein. Zu viel, zu schnell und zu grob schadet zunächst dem Papier und letztlich auch den Farben.
Ist das Papier nicht für die Aquarell-Malerei geeignet, entsteht eine Mixtur ohne Sinn.
Es besteht die Möglichkeit, auch dies als Kunst zu verkaufen. Es besteht allerdings auch die Gefahr, dass die betrachtenden Personen sagen: Ist das Kunst oder kann das weg?
Gesättigt
Wenn in einer Flüssigkeit die höchstmögliche Menge eines Stoffes vorhanden ist, der sich in dieser Flüssigkeit auflösen lässt, nennt man die Lösung gesättigt.
Man kann zwar immer mehr von dem bereits gelösten Stoff in die Flüssigkeit kippen, das hat allerdings keinen Sinn mehr und der Stoff wird sich in der gesättigten Flüssigkeit auch nicht mehr lösen. Selbst wenn man meint, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen zu können oder diese „doof“ zu finden.
Der Naturwissenschaft wird das herzlich egal sein.
Wenn ein Papier, und sei es auch noch so fest, vollkommen mit Farbe bedeckt werden soll, dann muss es stabil sein und die richtige Struktur für den Farbauftrag aufweisen.
Ist das Papier zu dünn, weist es keine freie Stelle mehr auf, wurde der Farbauftrag mit Gewalt durchgeführt oder beanspruchte man eine Stelle des Papiers in zu hohem Maße mit einer einzigen Farbe, so wird es kaputtgehen.
Kein Bild ohne Grundlage
Und wenn man das Papier einmal zerstört hat, dann kann es überhaupt keine Farben mehr aufnehmen, dann haben die Farben keinen Platz mehr, dann kann gar kein neues Bild entstehen.
Aufhören können
Bei jeder Würzung von Speisen, bei jedem Farbauftrag, bei jeder Renovierung, beim Schminken, beim Süßen, beim Schreiben und Feiern: Man muss wissen, wann es genug ist.
Sonst wird es ungenießbar, scheußlich, zerstört die Grundlagen, wirkt lächerlich, schmeckt ekelhaft oder endet im Desinteresse oder mit Kopfweh.
Genug der Farben!