Nadine Rebel
Keine Webseite ohne Haftungsausschluss. Disclaimer wird dieser Passus genannt. Man distanziert sich und merkt an, was man alles nicht ist, nicht möchte und mit wem oder was man nicht in Verbindung gebracht werden will. Ein solcher Disclaimer oder auch viele Disclaimer scheinen heute Grundvoraussetzung fast jeder Kommunikation oder Interaktion zu werden. Mich beschleicht der Gedanke, dass hier eine gewisse Verantwortungsverschiebung stattfindet.
Rechtliche Wirksamkeit
Obwohl die Disclaimer heute inflationär genutzt werden, ist deren rechtliche Wirksamkeit umstritten. Dennoch entsteht ein ungutes Gefühl, wenn man auf die Disclaimer verzichtet.
Keine Webseite ohne Haftungsausschluss. Auch in jeder Mail findet man derartige Formulierungen. Man distanziert sich im Vorfeld vorsorglich von Allem, was einem zum Nachteil gereichen könnte. Weil es Personen gibt, die nur nach Möglichkeiten suchen, einem aus unklaren Formulierungen einen Strick zu drehen.
Vorbereitende Distanzierung
Sobald man seine (kritische) Meinung äußert, wägt man auch ab, inwieweit man eine Disclaimer-Einführung geben sollte. Nein, ich möchte diese Aussagen nicht politisch gewertet wissen. Nein, ich bin weder gegen A, B, C, D (to be continued) noch für 1, 2, 3, 800.
So wie die auf Webseiten und in Emails üblichen Disclaimer keine generelle Wirksamkeit entfalten und die individuelle Gegebenheit im schlimmsten Fall vor Gericht entschieden werden muss, so sind auch Kommunikations-Missverständnis-Disclaimer selten wirksam.
Wer missverstehen möchte, wird dies tun. Wer etwas unterstellen will, wird dies tun. Da nutzt auch der bestformulierte Disclaimer nichts.
Verantwortungsverschiebung
Und doch fühlt man sich mittlerweile nicht mehr wohl, wenn man sein Handeln, sein Tun und Sein nicht mit einem Disclaimer beginnt.
Ich muss es im Vorfeld und für alle Eventualitäten vorausschauend deutlich formulieren. Tue ich dies nicht, hat der/die/das Andere Recht, wenn er/sie/es im Nachgang erklärend darstellt, dass er/sie/es ja nicht davon ausgehen konnte, dass ich so oder anders nicht behandelt werden möchte, denn schließlich hätte ich das ja im Vorfeld nicht deutlich zum Ausdruck gebracht.
Tja, selbst schuld! Wer nicht klar formuliert, dass er kein Bein abgehackt bekommen möchte, der kann sich danach auch nicht beschweren, wenn eine andere Person dies gerade als lustige Freizeitbeschäftigung angesehen hat.
Tattoo gegen sexuelle Belästigung
Auch wenn die Formulierungen oben sehr drastisch sind, waren meine Gedanken dahingehend ähnlich, als ich von einer Methode las, die Personen vor sexuellen Übergriffen (in Freibädern) schützen soll und die nun ein Revival erleben könnte. Mit Klebetattoos gegen sexuelle Gewalt.
Ein „No“ eingerahmt durch zwei Engelsflügel (in weiß!!!), oben drüber eine Tatze mit Krallen und roten Kratzspuren.
Die Süddeutsche schreibt dazu:
„Nicht glotzen und vor allem: Finger weg. In Schwimmbädern am Bodensee sollen Klebetattoos mit zwei kleinen Flügeln, Krallen und dem Schriftzug "No" genau das ausdrücken. Die abwaschbaren Abziehbildchen sollen eine Warnung sein an potenzielle Grapscher, zugleich aber auch eine Bestärkung für Kinder und Jugendliche, sich zu wehren, wenn ihnen jemand zu nahetritt.“
Der Artikel ist bereits vom August 2016. Auslöser damals war die Silvesternacht in Köln. Silvester findet im Dezember statt, gebadet wird im August. Da hat sich das Thema aber lange gehalten, dafür, dass es dieses Thema doch gar nicht gibt.
Egal.
Obwohl betont wird, dass die Zahl sexueller Übergriffe in Freibädern schwankend sei, wurde allerdings auch 2016 bereits betont, dass es keinerlei Auffälligkeiten gäbe.
Dann frage ich mich, warum man nicht ein Tattoo anbietet, auf dem zu lesen ist, dass man Nichtschwimmer ist oder bewusst die dreckige Unterhose zum Baden gewählt hat.
Dann wären die Missverständnisse ausgeräumt und man müsste sich als dreckiger Unterhosenträger nicht mehr die abfälligen Blicke gefallen lassen. Gleichzeitig könnte man ungehemmt ins tiefe Wasser springen, schließlich hat man die übrige Gesellschaft ja vorher informiert, dass man nicht schwimmen könne. Somit geht die Verantwortung, die Gefahr zu beseitigen, auf die Gesellschaft über, die ja im Vorfeld lesen konnte, dass man nicht schwimmen könne.
Warum sich damals ein Thema, welches gar nicht existierte, von Silvester bis August gehalten hat und warum dieses Thema und das dazugehörige Tattoo nun erneut in den Fokus gerät, ist mir absolut schleierhaft, wenn es doch keinen Anlass dafür gibt.
Ach so, ja stimmt: Das Sommerloch ist wieder da. Das ist gemeinhin die Zeit für sinnlose Meldungen. Alles klar.
Moderne Absurditäten
Ob nun 2016 oder heute. Muss ich mir ein Tattoo auf den Arm kleben, damit ich nicht begrapscht werde? Und warum ist das Tattoo so klein?
Ich meine ja nur: Damit mein Gegenüber überhaupt lesen kann, was ich nicht möchte, muss er/sie/es mir ja ziemlich nahekommen.
Erinnert mich an die T-Shirts, die gerne von (weiblich gefühlten) Damen mit Hupen getragen wurden, auf denen ähnlich kesse Sprüche zu lesen waren, die der betrachtenden Person das Betrachten verboten, oder sie darauf hinwiesen, dass die Augen etwas weiter oben zu finden seien.
Gebrauchsanweisung
Ich bin gerade am Überlegen, wie viel Text man auf einen Bikini oder eine Badehose bringen könnte.
Und drunter:
Sollte eine der Bitten nicht mehr zeitgemäß sein, bleibt die Wirksamkeit der anderen Bitten bestehen.
Und wenn doch
Und sollte man dann damit konfrontiert werden, dass man unter Umständen im Wasser ungefragt von unbekannten Personen unter Wasser gedrückt wird, so ist das dem fehlenden Text oder dem fehlenden Tattoo zuzuschreiben.
Da hätte man sich schon im Vorfeld ein wenig genauer mit den etwaigen Situationen befassen können, die es gar nicht gibt.
Anstand ist eine Holschuld geworden
Ich dachte, ein Grundmaß von Anstand, Respekt und Zurückhaltung würde in selbstverständlicher Art das menschliche Miteinander bestimmen. Ich dachte auch, dass ich nicht explizit und im Vorfeld sagen muss, dass ich weder belästigt noch angegriffen werden möchte und ich es nicht schätze, wenn man mich beschimpft, beleidigt, mich bedroht.
Aber ich habe etwas gelernt: Es ist wichtig, für das, was man möchte oder nicht möchte, einstehen zu können und es klar zu formulieren. Im Vorfeld.
Versäumt man dies, darf man sich nicht beschweren, wenn man es nicht bekommt oder falsch behandelt wird. Es handelt sich schließlich nicht um Selbstverständlichkeiten.