Nadine Rebel
Über diese Beschreibung bin ich gestolpert, als ich einem siebenminütigen Ausschnitt eines Interviews lauschte. Harald Schmidt unterhielt sich mit Torsten Sträter. Über beide Protagonisten kann man geteilter Meinung sein. Getriggert hat mich die etwas neuartige Definition von Narzissmus, unter anderem auch, weil ich Narzissmus nie als positiv gesehen habe. Die Aussage stammt von der französischen Psychoanalytikerin Julia Kristeva und wurde mehrfach aufgegriffen und verwendet.
Der Mittelpunkt des eigenen Universums
Gerade bei Definitionen, denen ich nicht sofort zustimmen kann und auch gar nicht zustimmen will, bleibe ich hängen. Was, wenn der Andere Recht haben könnte? Könnte doch sein, dass diese Definition richtig ist, auch - oder gerade, weil sie mir nicht schmeckt.
Kann Empörung nur ein Ausdruck verletzter Eitelkeit sein? Man empört sich, weil man von anderen nicht angemessen behandelt wird? Was nimmt sich der andere heraus? Sieht er/sie/es nicht, wie grandios und wichtig ich bin? Unverschämtheit. Ich bin empört.
Die Möglichkeit ist nicht besonders schmeichelhaft. Doch wann ist die Wahrheit schmeichelhaft?
Die Recherche führte mich zunächst zum Artikel „Der Tanz ums eigene Ego“ von Barbara Bleisch (02.09.2019).
Hier wird gegen Ende des Artikels ebenfalls die Aussage der Psychoanalytikerin aufgegriffen. Die Umschreibung sei in einem Interview zu einem anderen Thema gefallen, welches die Psychoanalytikerin mit der FAZ geführt hat.
Ah!
Gut. Lesen wir zunächst die Beschreibung des Tanzes ums eigene Ego.
Vielleicht muss ich mich weder empören noch beschämt sein?
In jedem Fall lohnt es sich, den Artikel zu lesen, da er den hochmodernen aktuellen Moralismus thematisiert. Anzumerken ist, dass er von 2019 stammt. Die mitunter großen Blüten der Absurdität des Moralismus hat erst die Pandemie hervorgebracht, bzw. die Knospen gedüngt, bis sie einem den Raum zur Entfaltung und die Luft zum Atmen nahmen.
Der negative Narzissmus stellt die Zusammenfassung der seltsamen Blüten des modernen Moralismus dar.
Barbara Bleisch schreibt gegen Ende des Artikels:
„Das eigene Image aufpolieren
«Empörung ist negativer Narzissmus», sagte die französische Psychoanalytikerin Julia Kristeva einmal in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», eine «Haltung, die zum Dogmatismus verleitet». Ich meine, hier steckt das wahre Problem mit dem Moralismus: dass wir die Empörung oft nur nutzen, um das eigene Image aufzupolieren, anstatt tatsächlich in der Welt da draußen anzupacken. So kreisen wir um uns, wie Tina Huber zu Recht schreibt, und nehmen uns selbst wahnsinnig wichtig. Der Sache der Moral ist der Tanz ums eigene Ego aber fremd.“
Moral hat demnach nichts mit dem eigenen Ego zu tun. Moral existiert ohne das Wirtstier eines menschlichen Egos. Wer allerdings Moral für sich beansprucht, sich über fehlende Moral anderer empört und dennoch nichts verändert, der beweihräuchert sich ausschließlich selbst als besseres Mitglied der Gesellschaft und trägt die moralische Empörung wie eine Monstranz vor sich her.
Könnte durchaus zutreffen.
Dogma
Dogma wiederum bezeichnet nur eine Grundüberzeugung.
Als ich nun von Dogmatismus las, fiel mir sofort der Film „Dogma“ ein.
Man mag mir meine Gedankensprünge verzeihen. Sollte man das nicht, so sehe ich mich gezwungen, mich empören zu müssen.
Im Film Dogma aus dem Jahr 1999 wird die Ein-Gott-Religion satirisch unter die Lupe genommen. Wenn man auch über Glaubensfragen lachen kann, sollte man diesen Film wenigstens einmal gesehen haben.
Spoiler-Alarm: Gott ist eine Frau
Die Handlung: Zwei gefallene Engel möchten gerne zurück in den Himmel. Nachdem sie vor tausenden von Jahren in Ungnade gefallen waren und seitdem ihr Leben in Wisconsin fristen, scheint sich nun eine Möglichkeit zu ergeben. Eine Kirche in New Jersey bietet anlässlich ihres Jubiläums einen Generalablass an und vergibt jedem, der diese Kirche betritt. Das ist die Chance für die beiden Engel. Allerdings würde sich die Kirche mit diesem Generalablass über die Unfehlbarkeit Gottes stellen, der/die ja die beiden Engel eigenhändig rausgeworfen hatte.
Das darf unter keinen Umständen passieren.
Gott kann man leider nicht fragen, denn er/sie ist leider von einem Minigolf-Ausflug in Menschengestalt nicht zurückgekehrt und gilt als verschollen.
Also müssen sich die übrigen (nicht gefallenen Engel) zusammentun. Die sind ihrerseits auch nicht immer mit der Bibel einverstanden, denn diese ist rassistisch. Der dunkelhäutige 13. Apostel Rufus sieht in diesem Rassismus die Begründung, warum er nicht in der Bibel erwähnt wird.
Die Odyssee endet in einem großen Showdown vor der Kirche.
Bis dahin wird man als gläubiger Mensch immer wieder mit scheinbaren Alternativlosigkeiten konfrontiert, die im Grunde nur die Hybris der Menschheit darstellen.
Dogma räumt in filmischer Form mit vielen Grundüberzeugungen der eitlen Menschen auf. Was ich daran mag: Am Ende bleibt der wirkliche Glaube im eigentlichen Sinne unangetastet.
So wie Moral nichts mit Selbstdarstellung zu tun hat, hat Glaube nichts mit Kirche zu tun.
Das führt zurück zum Dogmatismus und den noch offenen Artikeln.
Dogmatismus
Dogma ist eine Grundüberzeugung. Dogmatismus ein stures Festhalten an der eigenen oder einer scheinbar überzeugenden Lehrmeinung oder Ideologie.
Empörung ohne Veränderung führt nur Dogmatismus.
Man hält stur an der eigenen Überzeugung fest, plustert sich auf, schlägt das eigene Pfauenrad unumstößlicher moralischer Überzeugungen und diffamiert jeden, der dieses Pfauenrad nicht bewundert.
Da ist leider etwas Wahres dran. Dabei kommt es allerdings auch immer auf die Sichtweise an. Für den einen ist es Dogmatismus, für den anderen Dummheit. Für den einen ist es Sturheit, für den anderen Prinzipientreue. Für den einen ist es Stil, für den anderen Verbohrtheit.
Man kann sich nicht über die unterschiedlichen Meinungen von Menschen empören, solange diese einen nicht tangieren. Man darf, ja muss sich allerdings empören, wenn sie in einer Art und Weise übergriffig werden, dass sie den anderen nicht mehr sein lassen und ihm Schaden zufügen.
Die eigenen Schatten
Da der Artikel „Tanz ums eigene Ego“ allerdings seinerseits nicht der Ursprung der Beschreibung der Empörung als negativer Narzissmus ist, suche ich weiter.
In der FAZ vom 03.05.2013 werde ich fündig.
Hier geht es nicht mehr „nur“ um Moralismus. Vielmehr räumt die Psychoanalytikerin Julia Kristeva mit ganz Europa auf.
Der Teaser zum Interview lautet:
„Ohne Traumabewältigung keine Erfolge. Wäre Europa ein Patient und würde sich auf die Couch legen, bekäme es von der Psychoanalytikerin die Leviten gelesen.“
Wenn ich den Inhalt richtig verstehe, so mahnt die Psychoanalytikerin an, dass Europa versucht hat, sich neu zu erfinden und dabei den Blick auf die Geschichte jedes eigenen Landes, auf die düsteren Kapitel eines jeden Landes außer Acht gelassen hat.
Einige Länder betreiben Geschichtsaufarbeitung bis zur Selbstaufgabe und Selbstverleugnung, andere blenden diese Kapitel aus. Nur Licht, kein Schatten.
Wer so agiert, kann nicht vorankommen.
2013 stellt die Autorin also fest, dass Europa krankt. Ohne einen Blick auf die eigenen Fehler, kann man diese aber weder beheben noch in Zukunft vermeiden.
Die Gemeinsamkeit kann nur in der Anerkennung der Unterschiedlichkeiten entstehen.
Es folgen die entscheidenden Ausführungen:
„Eine weitere Sackgasse Europas ist der Hang zur Empörung, ein Wort, das inzwischen groß in Mode ist. In meinen Augen ist die Empörung romantisch, eine von Abwehr und Zorn geprägte und jugendlich-unreife Reaktion, die keine glaubwürdige Alternative benennt, weil sie keinerlei Interaktion mit dem anderen vorsieht. Sie denkt nicht an den anderen. Es ist eine Haltung, die zum Dogmatismus verleitet; sie ist ihrem Wesen nach totalitär und todbringend. Die Empörung ist eine europäische Sünde, ein negativer Narzissmus.“
Jeder hält an seinen Glaubenssätzen fest, keiner ist bereit, sich in den anderen hineinzudenken und Kritik führt nur zu Empörung.
Stimmt auch.
Dennoch bin ich, wie sich vermuten lässt, nicht ganz bei ihr. Jugendlich unreif, geprägt von Abwehr und Zorn, ohne konstruktive Aspekte? Ganz so dramatisch sehe ich Empörung nicht.
Empörung bedeutet, dass einem etwas gegen den Strich geht und dass man sehr wohl weiß, wie man es anders haben wollen würde. Empörung bedeutet auch, dass man es benennen kann und seinen Mund aufmacht. Empörung konfrontiert. Empörung lässt eine Reaktion der anderen Seite zu.
Kristeva führt weiter aus:
"Wir brauchen uns dennoch nicht unserer Kultur des Infragestellens zu schämen, ganz im Gegenteil. Wir verdanken ihr die Befreiung des Körpers, die Freiheit des Denkens und das Recht auf Abweichung, die Flexibilität des Denkens, einen gewissen Hang zum Schöpferischen und zum freien Unternehmertum, Wachsamkeit gegenüber jeglicher Form von absoluter Macht oder gegenüber der Versuchung des Krieges.
Diese Kultur ist das beste Gegengift gegen Verkrampfungen, gegen die eindimensionale Geschwindigkeit unserer hypervernetzten Welt, gegen jegliche Form von Integralismus, gegen die einseitige Betonung des Ökonomischen oder des Religiösen. Sie schützt das Singuläre eines jeden: Europa ist vom Kult der Person, von der Sorge um die Person geprägt.“
Wie schön wäre es gewesen, wenn sie hier Recht behalten hätte. Wachsamkeit gegenüber jeglicher Form absoluter Macht, Wachsamkeit gegenüber den teuflischen Versuchungen des Krieges. Ein natürliches Gegengift gegen eine verkrampfte Haltung. Diese Kultur, die nach Meinung Kristevas Integralismus hinterfragt, das Religiöse nicht überbetont und den Einzelnen schützt.
Heute sehe ich beides: Einerseits der Kult um Einzelpersonen, die Sorge, als Individuum zu kurz zu kommen und für die Gesellschaft in irgendeiner Weise zurückstecken zu müssen.
Auf der anderen Seite keine Duldung von Kritik, ein Diffamieren von Abweichlern und ein Integralismus, der manchmal über das Ziel hinauszuschießen droht.
10 Jahre später
Hat man meines Erachtens die Kultur des Infragestellens ad absurdum geführt. Biologische Gesetzmäßigkeiten werden infrage gestellt, während andere Sachverhalte unter keinen Umständen mehr in Frage gestellt werden dürfen.
Die Autorin proklamiert gegen Ende ihrer Ausführungen ein kraftvolleres und stolzeres europäisches Bewusstsein.
Meines Erachtens kann ein Gemeinbewusstsein allerdings nur dann entstehen, wenn man sich seiner selbst als Einzelmensch bewusst ist und diese Existenz auch sein darf.
Die Absolution dahingehend, dass man im Grunde so in Ordnung ist, wie man ist. Und dass der jeweils andere auch so bleiben darf, wie er ist, solange er mich nicht beschädigt oder von mir verlangt, dass ich mich ihm gleichmachen muss.
Das wiederum gilt allerdings für beide Seiten
Und so kann ich der Behauptung, Empörung sei negativer Narzissmus in gewisser Weise zustimmen.
Allerdings möchte ich betonen, dass es für mich keinen positiven Narzissmus gibt. Der innere Frieden, das Selbstbewusstsein, die Existenz der Grenzen dessen, was man sich gefallen lässt, ist für mich nicht Ausdruck von Narzissmus, sondern von Selbstschutz.
Empörung als Grundstein der Veränderung
Wenn es bei reiner Empörung bleibt, wird sich nicht verändern. Das stimmt.
Doch könnte Empörung nicht auch der erste Schritt sein? Der erste Schritt, sich etwas Derartiges nicht mehr bieten lassen zu wollen. Selbst dann, wenn man sich in den anderen hineinversetzt hat?