Nadine Rebel
„Großmut ist Edelmut mit Selbstbesiegung.“
Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm, Band 9
Großmut ist eine Charaktereigenschaft, die es ermöglicht, Handlungen gegen die eigene Person vergeben zu können.
Großmut gilt als positive Eigenschaft, Rachsucht als negative. Eine auf Großmut basierende Lösung kann nur gemeinsam erzielt werden. Großmut ist Eigeninitiative und kann nicht eingefordert werden.
Wer Großmut zeigen will, muss sich vom Wunsch verabschieden, den anderen kleinzukriegen, zu besiegen oder niederträchtig zu behandeln, er muss in allererster Linie zunächst über sich, die eigene Rachsucht, den eigenen Trotz, das eigene Unrechtsempfinden siegen. In manchen Situationen scheint das zu viel verlangt.
Zuerst der andere
Großmut kann nur von einer Person selbst ausgehen. Großmut kann man nicht einfordern. Wer Großmut zeigen will, der begibt sich in Gefahr. Wer verzeiht, wer den Mantel des Schweigens über Unrecht ausbreitet, wer Dinge nicht mehr thematisiert, weil man es „gut“ sein lassen will, der kann sich nie sicher sein.
Im Idealfall sieht der andere, dass man im Grunde auf das gleiche Ziel hinsteuert und dass man dieses Ziel nur gemeinsam erreichen kann, im schlechtesten Fall amüsiert sich der andere über die eigene Schwäche, über die Präsentation der Verletzlichkeit und nutzt diese (weiter) schamlos aus.
Insofern ist es nachvollziehbar, dass man den ersten Schritt zunächst vom anderen erwartet. Angst, Unsicherheit, verlorengegangenes Vertrauen, die Gefahr, in die man sich begibt, das Gefühl, sich unter Umständen lächerlich zu machen, die eigene Schwäche zu offenbaren und enttäuscht zu werden, ist groß.
Diese Hürde gilt es als erstes zu überwinden, bevor man etwas von der anderen Seite verlangen kann.
In Zeiten, in denen man sich ungerecht behandelt fühlt, in denen man verletzt ist und in denen man möchte, dass endlich alles wieder richtig und gerecht zugehen sollte, auch noch den ersten Schritt zu tun, wer kann das schon?
Nachgiebigkeit gegen Unverschämtheit
„Nachgiebigkeit gegen Unverschämtheit führt doch immer zuletzt zum Bruche, und es ist besser und anständiger, gleich zu brechen.“
Theodor Fontane, 1819-1898
Auch diesem Zitat kann ich etwas abgewinnen. Gerade diese Zerrissenheit im Verständnis macht es nicht leichter.
Wie oft ist man schon großmütig auf eine Person zugegangen, war bereit über Unrecht, Unverschämtheit, über falsches Verhalten, Lügen und mehr hinwegzusehen, nur um dann, Tage, Wochen, Monate oder Jahre später festzustellen, das man sich das auch hätte sparen können.
In solchen Fällen wiegt die Enttäuschung doppelt. Man ist enttäuscht über sich selbst, enttäuscht darüber, zu viele Möglichkeiten geboten zu haben, sich zu wenig gewehrt zu haben, sich klein, verletzlich und großmütig gezeigt zu haben. Man ist enttäuscht, weil diese Tugend augenscheinlich nur dazu geführt hat, dass sie vom anderen missbraucht werden konnte.
Und man ist enttäuscht vom anderen, weil dieser so gehandelt hat, wie diese Person eben gehandelt hat.
Wäre man doch nicht so nachgiebig gewesen. Hätte man doch sofort Nägel mit Köpfen gemacht.
Tugend dankt dir keiner, da sieht man es mal wieder.
Dann doch lieber keine Nachgiebigkeit, dann lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende?
Sofortiger Bruch als Anstandszeugnis?
Ich weiß nicht.
Erwartungshaltung
Großmut hat in meiner eigenen Interpretation nichts mit Gönnerhaftigkeit zu tun. Ein in huldvoller Gleichmütigkeit gehauchtes „Schon gut, Schwamm drüber“, welches man an den Tag legt, nur weil man die andere Person im Vorfeld zur Reue, Entschuldigung und Erniedrigung genötigt hat, ist für mich nicht großmütig.
Was aber ist Großmut dann? Großmut lebt im Verborgenen. Großmut ist leise. Großmut wird in vielen Dingen verkannt.
Missinterpretiertes Schweigen
Gönnerhaftigkeit ist laut und braucht eine Bühne. Großmut schweigt.
Gerade dieses Schweigen kann dazu führen, dass die Partei, der mit Großmut begegnet wird, das Verhalten missinterpretiert.
Das Schweigen kann als Zustimmung gesehen werden, es kann dazu führen, dass sich die Vermutung einschleicht, dass der andere eingesehen hätte, dass er falsch lag, es kann die eigene vermeintliche Überlegenheit stärken.
Ein Mensch, der Großmut walten lässt, hat diese Interpretation nicht in der Hand.
Großmut kann ohne Aussprache, ohne Mediation und teilweise ohne Klärung erfolgen.
Der großmütige wird für seine Tugend keinen Lohn erhalten, außer den Seelenfrieden.
Niemand wird ihm auf die Schulter klopfen, niemand mit Anerkennung und Respekt reagieren.
Keine Anerkennung, keinen Respekt und die erfahrenden Ungerechtigkeiten einfach stehenlassen. Das ist in vielen Dingen zu viel verlangt.
Der Klügere gibt nach
Und irgendwann haben dann die Dummen das Sagen.
Wer das eigene Nachgeben nicht ohne den Zusatz der Klugheit lebt, agiert nicht großmütig, sondern überheblich. Er erhebt sich über den anderen, definiert sich als klüger, kann es nicht stehenlassen, ohne dem anderen noch eins „reinzuwürgen“.
Nachgeben, klein beigeben, sich der Lächerlichkeit preisgeben, um die stille Tugend der Großmütigkeit, die keiner erkennt, für sich beanspruchen zu können? Keine besonders attraktive Vorstellung.
Denn die Verletzung ist vorhanden, sie heilt nur langsam. Großmut ist ein Pflaster, die Zeit muss die Wunde heilen.
Innere Heilkraft
Großmut wächst von innen heraus. Ohne die Aussicht auf einen „return of investment“ waltet Großmut aus intrinsischer Motivation.
Obwohl man weiß, dass man im Recht ist, obwohl man weiß, dass hier Unrecht begangen wurde oder jemand sich ganz grundsätzlich falsch verhalten hat, thematisiert man nicht weiter, lässt es gut sein.
Kein „wie du mir, so ich dir“. Verzeihen. Etwas im Inneren so abschließen, dass die Giftwirkung eliminiert werden konnte. Danach ist man mit sich und dem anderen im Reinen, so dass auch keine Spitze, kein Zynismus und kein unterschwellig angriffslustiger, vorwurfsvoller oder provokanter Ton mehr die Zukunft stört.
Die Zeit heilt alle Wunden
Die Narben bleiben.
Großmut kann sich ein wenig mit der Hoffnung auf später trösten. Großmut bekommt die Aussicht auf ein „vielleicht“.
Vielleicht redet man noch einmal drüber. Wenn genügend Zeit vergangen ist, wenn sich die Wogen geglättet haben, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, dann kommt die alte Thematik vielleicht noch einmal zur Sprache.
Dann stellt vielleicht genau die Person, gegenüber der man Großmut an den Tag gelegt hat, die Frage, woher denn diese Narbe käme, die da zu sehen ist.
Und vielleicht kann man dann, wenn nicht mehr alles so frisch ist, wenn die Emotionen nicht mehr das Gemüt vernebeln, noch einmal darüber reden.
Eine Garantie dafür gibt es nicht, diese spielt aber auch keine Rolle.